Rezensionen - Warum gerade ich...?

Dr. Carl Figura, Ministerialdirigent Kultusministerium Hannover, 1982
In: Ehrinwirth-Sonderschulmagazin, Heft 5, 1982


... ein Buch mit einem hohen pädagogischen Anspruch ... Der Wert dieser Reflexion wird unterstrichen durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis und die Bibliographie der ... Auto-/Biographien - gegliedert und annotiert - zur Bibliotherapie. Der Rezensent erinnert sich bei der Lektüre des Buches an einen Ausspruch eines seiner Lehrer, der bei der Empfehlung eines gelungenen Buches zu sagen pflegte, dass das Buch nur einen Fehler habe, nämlich den, dass nicht er der Autor sei. Wenn dieses überhaupt ein Prädikat sein kann, dann sei es dem Buch gewidmet ...

Rezension: Faszinierend in eine neue Dimension Menschlichen Lebens

Das Buch ist inhaltlich und vom Anspruch her die konsequente Fortführung des Anliegens, das die Autorin mit den 1980 bei Westermann erschienenen Bänden „Soziale Integration Behinderter“ sich und dem Leser aufgegeben hat. Aber auch ohne die letztgenannten Titel zu kennen, erfährt der interessierte Laie wie der Fachmann auf wenigen Seiten in einzelnen Kapiteln hautnah die Problematik, die sich aus der Analyse von 150 Biographien Behinderter und Betroffener ergibt.

Behindertsein im weitesten Sinne wird hier als existentielle Krise verstanden, die unabhängig vom Auslöser der Krise von allen Betroffenen durchlebt und bewältigt werden muß, wenn soziale Integration erreicht werden soll. Die Auslöser können der Beginn einer Behinderung oder chronischer Krankheit ebenso wie die Todesgewißheit bei der Diagnose „Krebs“, das angeborene wie erworbene Leiden in gleicher Weise wie Arbeitslosigkeit oder Partnerverlust. In einem Lernprozeß der Krisenverarbeitung ist es Behinderten wie Begleitenden aufgegeben, dem Betroffenen erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, damit er seine Lage annimmt. Die Autorin bietet zu diesem Verarbeitungsprozeß ein sog. Spiralphasen-Modell an, in dem von Phase 1, der Ungewißheit, bei Eintritt einer Behinderung und dem erfolgten Schock bis zur Phase 8, genannt Solidarität, die Stationen aufgezeigt werden, die zum Ziel- Stadium führen.

Der Vorteil dieser theoretischen Vorwegnahme eines möglichen Verarbeitungsprozesses erweist sich spätestens im dritten Kapitel, das die Lebensgeschichten exemplarisch in den Mittelpunkt stellt. Titel aus den Biographien wie z.B. „Herrgott, schaff’ die Treppen ab“, überschreiben die Beispiele aussagekräftig und führen — wenn dieser Ausdruck hier zugelassen ist — faszinierend in eine neue Dimension menschlichen Lebens ein. Das Einander-Begleiten wird als das Kriterium erkannt, aus dem „Beziehungsfähigkeit“ erwächst. Mitmenschlichkeit wird dort real, wo Menschen leidensfähig werden.

Es erscheint ein Widerspruch zu sein, in einer Zeit, in der andere Tendenzen vorherrschend sind, in der ein maßloses Anspruchsdenken um sich greift, der Frage „Warum gerade ich....?“ nicht auszuweichen. Christlicher Glaube kann dabei helfen und zur Annahme führen über die Phase der „Aggression als Katharsis“. Die Autorin weicht auch der Frage, was das Leiden im menschlichen Leben bedeutet, nicht aus und beruft sich dabei auf namhafte Theologen.

Insgesamt ist es ein Buch mit einem hohen pädagogischen Anspruch. Der Wert dieser Reflexion wird unterstrichen durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis und die Bibliographie der eingangs erwähnten Auto-/Biographien – gegliedert und annotiert – zur Bibliotherapie. Der speziell interessierte Leser findet in dieser Gliederung der Bibliographie aller Lebensgeschichten - kategorisiert nach Lebensstörungen, Krankheiten, Behinderungen - eine Fundgrube. Dieses wiederum scheint von außerordentlichem Wert zu sein, wenn man Betroffenen, Fachleuten, Eltern, Partnern und wem auch immer zusätzlich helfen will, den „Tod der Beziehungslosigkeit“ zu überwinden.

Der Rezensent erinnerte sich bei der Lektüre des Buches an einen Ausspruch eines seiner Lehrer, der bei der Empfehlung eines gelungenen Buches zu sagen pflegte, daß das Buch nur einen Fehler habe, nämlich den, daß nicht er der Autor sei. Wenn dieses überhaupt ein zusätzliches Prädikat sein kann, dann sei es dem Buch gewidmet.