Rezensionen - Warum gerade ich...?

bundestag

Prof. Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bonn/Berlin
In: Politisches Magazin, Berlin, 2002

… Der Autorin ist mit ihrem 'Klassiker’ ein Werk gelungen, das neue Dimensionen des Verstehens eröffnet und unzähligen Leser/innen ein wertvoller Begleiter geworden ist ...

Rezension: Ein Klassiker – öffnet neue Dimensionen des gegenseitigen Verstehens

In ihren Grundfesten erschüttert und im tiefsten Innern verletzt schreien sie diese Fragen heraus. Da gibt es keine schnelle Hilfe, kein Rezept, wie ihr Leid angenommen und verarbeitet werden kann. Aber offenbar kann es gelingen, auch einen schweren Weg zu akzeptieren, Mut zu fassen, ihn weiter zu gehen. In ihrem Buch "Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen“, das jetzt in der 11., überarbeiteten Auflage erschienen ist, lässt Erika Schuchardt Betroffene zu Wort kommen. Sie schildern ihre geglückten oder gescheiterten Versuche, mit der Krise zu leben, ihre Auseinandersetzung mit Gott und der Mitwelt.

Der Autorin ist mit ihrem "Klassiker“ zum Thema ’Leiden und Glaube‘ ein Werk gelungen, das neue Dimensionen des Verstehens eröffnet und unzähligen Leserinnen und Lesern ein wertvoller Begleiter geworden ist. Auch dafür ist sie jüngst mit dem Kronenkreuz in Gold, der höchsten Auszeichnung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, ausgezeichnet worden. Der Festakt mit Bischof Wolfgang Huber (Berlin) und dem Bevollmächtigten des Rates des EKD, Prälat Stephan Reimers, war verbunden mit einer Präsentation der Jubiläumsausgabe von "Warum gerade ich?“ und einem Experten-Kolloquium zur Krisenverarbeitung im 21. Jahrhundert. Positive Erlebnisse mit ihrem Glauben.

Über 2000 Lebensgeschichten hat Erika Schuchardt, CDU-Bundestagsabgeordnete und Professorin an der Universität Hannover, untersucht. Auch ihre persönlichen Erfahrungen aus vielen Jahren, in denen sie Menschen auf ihrem Weg durch Krisen, Krankheiten, Behinderungen und Sterben begleitet hat, finden ihren Niederschlag in diesem Buch ebenso wie die Auswertung der Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Kassetten, die sie von Leserinnen und Lesern früherer Auflagen von "Warum gerade ich?“ erhalten hat.

Die Übereinstimmungen und Gesetzmäßigkeiten, die die engagierte Sozialwissenschaftlerin dabei fand, hat sie im "Modell Krisenverarbeitung“ zusammengefasst. In acht Entwicklungsphasen, verdeutlicht im Bild der aufsteigenden Spirale als Symbol der menschlichen Seelenreise, vollzieht sich ein Lernprozess, "der es uns ermöglicht, das Durchleben und das Begleiten in der Krise neu zu verstehen, nämlich als ein einzigartiges Voneinander-Lernen.“

Eindringlich beschreibt Erika Schuchardt die Befindlichkeit der Betroffenen, aber auch ihrer Umwelt in den einzelnen Stadien und fragt nach der Bedeutung, die dem christlichen Glauben und der menschlichen Begleitung in Krisenzeiten zukommt. An ausgewählten Auto-/Biographien aus den letzten 100 Jahren veranschaulicht die Autorin ihre Erkenntnisse; sie berücksichtigt dabei Lebensgeschichten mit ganz unterschiedlichen Arten des Leidens – körperliche wie geistige Behinderung, Depression, Krebserkrankung, aber auch politische Verfolgung und Verlassenwerden.

Unverhüllt sprechen die Betroffenen darin von ihrem Kampf gegen die Bedrohung und Verkümmerung ihres Daseins, von ihrem Glauben an Gott und von dem langen Lernprozess, der mehr oder minder von Erfolg gekrönt war. Erika Schuchardt zieht folgendes Fazit: Trotz negativer Erfahrungen mit Kirche und Seelsorge halten viele Betroffene an den positiven Erlebnissen mit ihrem Glauben fest.

Die Möglichkeit der Anklage und Klage vor Gott macht den christlichen Glauben zu einem wichtigen Faktor im Prozess der Krisenverarbeitung. "Auch ein Christ weiß keinen Weg am Leid vorbei, wohl aber einen mit Christus gemeinsam beschrittenen Weg hindurch.“

Alle Biographien bestätigen die vorwiegend stützenden Erfahrungen Betroffener mit ihrem Glauben. "Nur etwa ein Drittel der von einer Krise Betroffenen", so die Autorin, "erreichten das Zielstadium der Annahme ihres Leidens und schließlich die soziale Integration, weil sie angemessene menschliche Begleitung erfuhren. Zwei Drittel dagegen brachen – auf sich alleingestellt – den Lernprozess vorzeitig ab." Ihre Beobachtungen vom Umgang Nichtbetroffener mit leidenden Menschen gipfeln für Erika Schuchardt in der Erkenntnis: "Weniger die von Krisen schon betroffenen Menschen sind unser Problem, vielmehr werden wir, die ’noch nicht betroffenen‘, ihnen zum Problem."

Die Frage nach dem "Warum und Woher“ des Leidens muss auch bei Erika Schuchardt unbeantwortet bleiben. Aber die große Resonanz, die das Buch "Warum gerade ich?“ seit seinem ersten Erscheinen vor 20 Jahren erfährt, dokumentiert die Bedeutung des Themas.

Das ausführliche Literaturverzeichnis sowie vor allem die Bibliographie der über 2000 Lebensgeschichten –übersichtlich gegliedert nach kritischen Lebensereignissen – macht das Buch zudem zu einem ausgezeichneten Nachschlagewerk.

"Seit dem Erscheinen dieses Buches gibt es vielfältigen Kontakt und Austausch mit meinen Lesern und Leserinnen,“ schreibt Erika Schuchardt im Vorwort der jüngsten Ausgabe. "So kann ich heute mit Freude und Dank feststellen, daß mein Buch als ein Stück Bibliotherapie angenommen, weitergereicht und nachgefragt wird.“

In unserer heutigen Erlebnis- und Spaßgesellschaft, in einer Zeit mit einem fragwürdigen Gesundheits- und Leistungsideal, in der nicht nur die Werbung die Maxime ’jung, dynamisch, erfolgreich‘ ausgibt, ist "Warum gerade ich?“ vielleicht mehr denn je gefragt. Denn: "Wir können die Krise oder das Kreuz nicht abschaffen ...; aber wir können die Bedingungen, die Art und Weise, unter der Menschen von Krisen oder vom Kreuz getroffen werden, verändern, und wir können uns selber verändern; darin liegt die Überschreitung der Grenzen.“

Rita Süssmuth