Rezensionen - Warum gerade ich...?

uni leipzig

Prof. Dr. Gottfried Kretschmar, Lehrstuhl für Praktische Theologie, Universität Leipzig
In: Theologische Literaturzeitung, 110. Jg., Heft 4, 1985, S.314 ff.


... überhaupt: Dass die Verfasserin die Begleitenden der Betroffenen mit in ihre Betrachtung aufgenommen hat, ist höchst anerkennenswert. Nach ihrer These sind oft nicht die schon Betroffenen das Problem, sondern die noch nicht Betroffenen werden ihnen zum Problem. Hier sollte nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche der Lernprozess ... intensiviert werden ...

Rezension: Praktische Theologie – Diakonik:
................. Pfarrer als ‘amtlich bestellte Rollenträger' selten als ‘mitleidende Partner'

Das von der UNO proklamierte „Jahr der Geschädigten“ (1981) hat einer breiten Öffentlichkeit das Schicksal behinderter Menschen ins Bewußtsein gerufen. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall gewesen, daß die 1. Aufl. dieses Buches der bekannten Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hannover gerade zu diesem Zeitpunkt erschien. Es spricht für diese Publikation, daß drei Jahre später eine erweiterte Zweitauflage vorgelegt werden konnte, die zudem mit dem Buchpreis 1984 des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien ausgezeichnet wurde.

Im Mittelpunkt der Veröffentlichung der Verfasserin stehen 5 Lebensgeschichten, die sie aus 260 Lebensgeschichten Behinderter ausgewählt hat. Zunächst berichtet eine durch Kinderlähmung körperbehinderte Frau (Luise Habel: Herrgott, schaff die Treppen ab!). Ihr folgt Ingrid Weber-Gast, die zusammen mit ihrem Ehemann Stephan Weber-Gast, beide sind Seelsorger an einer Fachklinik für Neurologie und Psychologie, über die seelische Behinderung durch erlebte Depression reflektieren (Ingrid Weber-Gast: Weil du nicht geflohen bist vor meiner Angst). Das Schicksal eines durch Unfall Blinden, des Franzosen Jacques Lusseyran, führt der nächste Bericht vor Augen (Das wiedergefundene Licht. Das Leben beginnt heute).Ruth Müller-Garnn und das Ehepaar Sylvia und Albert Görres berichten sodann über ihre geistig behinderten Kinder (Müller-Garnn: … und halte dich an meiner Hand; Görres: Leben mit einem behinderten Kind). Zuletzt berichtet die Amerikanerin Laurel Lee über ihre unheilbare Krebs-Krankheit, zumal ein Leben mit dieser Todesgewissheit eine Behinderung eigener Art darstellt (Wenn du durchs Feuer gehst, sollst du nicht brennen).

Diese Lebensgeschichten, die entweder selbst, oder im Falle der geistig behinderten Kinder von den Begleitpersonen dargestellt werden, wurden einer biographischen Längsschnitt-Studie von Pearl S. Buck, der Mutter eines geistig behinderten Kindes, zugeordnet, deren Autobiographie 1950 in New York erschien: The Child who never grew; deutsche Übersetzung: Geliebtes, unglückliches Kind, Wien/Heidelberg 1952.

Die Verfasserin kommt durch eine Analyse der insgesamt 260 Biographien zu dem Ergebnis, daß trotz unterschiedlicher Behinderungsarten gleiche Lernprozess-Verläufe in der Krisenverarbeitung artikuliert werden. „Innerhalb des Lernprozesses Krisenverarbeitung hat die Aggression als Katharsis eine Schlüsselfunktion … Religiöser Glaube als Wertbestimmung kann Aggression ersetzen und kompensieren … Prozess-Begleitung zeichnet sich als Bedingungsfaktor im Lernprozess Krisenverarbeitung ab (S. 41)

Diese ihre Erkenntnisse hat sie bereits auf S. 31 in der Form einer Abbildung unter der Überschrift: Krisenverarbeitung als Lernprozess in 8 Spiralphasen dargestellt. Sie sind es wert genannt zu werden: 1. Ungewissheit (Was ist eigentlich los …?), 2. Gewissheit (Ja, aber da kann doch gar nicht sein…?), 3.Aggression (Warum gerade ich …?), 4. Verhandlung (Wenn…, dann muss aber …?), 5. Depression (Wozu…, alles ist sinnlos?), 6. Annahme (Ich erkenne jetzt erst …!), 7. Aktivität (Ich tue das …!), und 8. Solidarität (Wir handeln …!).
Die Verfasserin nennt die Phasen 1-3 Eingangs-Stadium I, die Phasen 4-6 Durchgangs-Stadium II und die Phasen 7 und 8 Ziel-Stadium III.

Der Rezensent wurde beim Vertiefen in diese Spiralphasen erinnert an Yorick Spiegels Strukturierung des Trauerprozesses und an die Gliederung von Elisabeth-Kübler-Ross, die sie angesichts einer infausten Diagnose bei Schwerkranken und Sterbenden beobachtete. Sicherlich haben solche Schemata auch ihre Grenzen. Behinderungs-, Trauer- und Krankheitsbewältigungen können u.U. auch ganz anders verlaufen. Dennoch ist es der Verfasserin zu danken, daß sie den Lernprozess Krisenverarbeitung in dieser Acht-Phasenspirale veranschaulicht. Nicht wenige Betroffene oder Betreuer und Begleiter von Behinderten werden ihr diesen Prozess- und Bewältigungsverlauf bestätigen.

Überhaupt: Daß die Verfasserin die Begleitenden der Betroffenen mit in ihre Betrachtungen aufgenommen hat, ist höchst bemerkenswert. Nach ihrer These sind oft nicht die schon Betroffenen das Problem, sondern die noch nicht Betroffenen werden ihnen zum Problem. Hier sollte nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche der Lernprozess, der im ‚Jahr der Geschädigten’ so verheißungsvoll begann, intensiviert werden.

Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Erfahrungen, die Betroffene mit Kirche, Diakonie und Pfarrern gemacht haben. Auch Verkündigung als bloße Vertröstung wird kritisch hinterfragt. Pfarrer werden bei Hausbesuchen als ‚amtlich bestellte Rollenträger’, aber nur selten als persönlich betroffene und mitleidende Partner (S. 18) erlebt.

Trotz solcher negativer Erfahrung mit Kirche und Pfarrern halten jedoch betroffene und beteiligte Bezugspersonen an ihren Glaubenserfahrungen fest. Gerade bei der Krisenverarbeitung kann der Glaube eine als Katharsis erkannte Aggression (3. Spiralphase) auffangen in der Anklage und Klage vor Gott. Insofern befreit der Glaube zum Dialog mit Gott.

Die Verfasserin hat schließlich ihrem Buch, das vor allem durch die biographischen Ausschnitte und die Wege zur Krisenbewältigung gewichtig genug ist, einige grundsätzliche Erwägungen beigefügt: „Theologisches zu Leiden und Leidensfähigkeit“. Sie rezensiert Bücher von Hans Küng (Gott und das Leid, 1967), Dorothee Soelle (Leiden, 1973), A.M.K.Müller (Vom Sinn des Leidens, 1974; Der Sturz des Dogmas vom Täter, 1974) und Giesbert Greshake (Der Preis der Liebe. Besinnung über das Leid, 1978), um schließlich nach diesen unterschiedlichen Entwürfen sich noch einmal selbst Erwägungen und Fragen an die Theologie (S. 109 bis 111) hinzugeben. Ein Nachwort von Landesbischof Eduard Lohse, dem Ratsvorsitzenden der EKD, schließt den Text ab. Dies sicherlich nicht zuletzt, weil die Verfasserin seit 1972 Synodale der Ev. Kirche in Deutschland ist und auch in ökumenischen Gremien des Weltkirchenrates mitarbeitet.

Es folgen dann Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und eine m.W. einmalige umfassende „Bibliographie der Biographien und Autobiographien zur Krisenverarbeitung von 1900 – 1984 (Behinderung bzw. Lebensstörungen)“ mit einer anschließenden „Gliederung zur Bibliographie der Lebensgeschichten mit kurzen Annotationen 1900 – 1984“.

Dieses Buch ist eine aufregende, anregende und an manchen Stellen provozierende Lektüre. Es wirbt um den Abbau von Vorurteilen von behinderten Menschen und um Verstehen für ihre spezifischen Situationen, nicht zuletzt in der Kirchengemeinde. Und dennoch gilt der Satz: Es gibt keinen Schicksalstausch. „Schicksalsahnung“ indes ist möglich, wenn wir uns nur darum ernsthaft bemühen.