Rezensionen - Warum gerade ich...?

bethel

Pastor Johannes Busch, Leiter der Anstalt Bethel, Bielefeld
In: Der Ring, Informationsblatt in den v. Bodelschwinghschen Anstalten, Heft 7/8, Bielfeld, 1984
ferner In: Der Evangelische Buchberater, 38. Jg., Nr.3, Göttingen, 1984

... Literaturpreis 1984: ... Wer dem Wegweiser dieses Buches folgt und sich auf den Weg begibt, der gesunde und kranke, behinderte und nicht behinderte Menschen zueinander führt, der wird Erfahrungen machen, die ihm reichlich Anlass geben zu Dankbarkeit und Lob ...

Laudatio: Literatur-Preis 1984 – Begleitung öffnet für Lob und Dank

Vorbemerkung

Am 6. Juni 1984 wurde in Bethel der Literaturpreis 1984 des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien an Erika Schuchardtt verliehen, und zwar für ihr Buch " Warum gerade ich... ? Behinderung und Glaube". Burckhardthaus-Verlag. Die Laudatio, die Pastor Johannes Busch hielt und die nachfolgend wiedergegeben wird, ist zugleich eine Einladung an Mitarbeiter in der Diakonie, sich mit dem prämiierten Buch und den darin aufgeworfenen Fragen und Problemen zu beschäftigen.

Behinderung und Glaube

Laudatio - ein Lob ist auszusprechen. Über ein Buch. An eine Person. Ein Lob - Wofür?

Wer sich auf ERIKA SCHUCHARDTS Buch über Behinderung und Glaube einlässt, der sieht sich unversehens auf einen Weg geleitet, auf dem Menschen, die von Leid, von Krankheit oder Behinderung betroffen sind, mit anderen Menschen zusammen finden: auf dem sie einander wahrnehmen, miteinander leiden und so ihr Leben gestalten lernen. Solidarität ist das Ziel, das ERIKA SCHUCHARDT aufzeigt und einüben möchte, Solidarität, die Menschen befähigt, verlässliche, einfühlsame, Vertrauen und Hoffnung weckende Begleiter für ihre leidenden Mitmenschen zu werden; Solidarität aber auch, zu der vom Leiden betroffene Menschen durch die Gemeinschaft mit anderen fähig werden, um mit ihren Gaben dem Wohle aller zu dienen.

Um dieses leidenschaftlich verfolgten Zieles willen ist ERIKA SCHUCHARDT und ihrer gründlichen und umfassenden Studie Lob zu sagen. Ich bin davon überzeugt: Wer dem Wegweiser dieses Buches folgt und sich auf den Weg begibt, der gesunde und kranke, behinderte und nicht behinderte Menschen zueinander führt, der wird Erfahrungen machen, die ihm reichlich Anlass geben zu Dankbarkeit und Lob. ERIKA SCHUCHARDT beschreibt die Biographien nicht in Form einer distanzierten Inhaltsangabe. Man hat vielmehr den Eindruck: Sie hört den leidenden Menschen zu - und lässt sie auf diese Weise sprechen. Sie ist darauf aus, diese Menschen zu verstehen, ihre Situation nachzuempfinden, ihre Aggressionen, ihre Klagen zuzulassen. Die vielen, die stumpf und stumm geworden sind unter ihrem Leid, lädt ERIKA SCHUCHARDT mit Hilfe der Beispiele ein zu reden, zu klagen, sich zu wehren, die Krise als Chance anzunehmen. Die Begleiter leitet sie an, zuzuhören und zu verstehen, mitzuleiden und Vertrauen zu schenken.

ERIKA SCHUCHARDT hört genau hin. Jeder leidet auf seine eigene, einzigartige Weise, so wie sein Leben einzigartig ist. Und doch sind bei den vielen vom Leid betroffenen Menschen Parallelen erkennbar. Phasen der Krisenverarbeitung zeichnen sich ab, durch die der Leidende hindurchgeht. Nicht als gäbe es eine automatische Entwicklung "per aspera ad astra"; wer heute noch meint, zur Annahme seiner Behinderung oder Krankheit fortgeschritten zu sein, fällt morgen womöglich in die Depression oder die Aggression zurück. Und wer im Lernprozess der Krisenverarbeitung weiterkommt, wird am Ende Leiden und Tod nicht etwa los, sondern wird umgekehrt fähig, sein Leiden, sein Sterben als zu seinem Leben gehörend zu bejahen und gerade so Mensch unter Menschen zu sein.

ERIKA SCHUCHARDT deckt anhand der geschilderten Lebensgeschichten auf, dass einerseits der Glaube an Gott und andererseits die Beziehung zwischen den Betroffenen und den Begleitenden von entscheidender Bedeutung sind für den Verlauf und die Bewältigung der Krise. Allerdings: Genau da, wo Christen als seelsorgerliche Begleiter gebraucht werden, enttäuschen sie ihre kranken und behinderten Mitmenschen. Die Betroffenen machen die Erfahrung:
- Wir fühlen uns als Objekte, für die man etwas tut; nur selten als Subjekte, als ernst Genommene mitbeteiligte Gemeindeglieder,
- Verkündigung der Kirche erleben wir als vertröstende Verklärung des Leides; nur selten als Trost, der kritische Klärung ermöglicht.
- Seelsorgerliche Begleiter erscheinen uns als amtliche Rollenträger; nur selten als mitleidende Partner.

Es ist Frau SCHUCHARDT zu danken, dass sie das Versagen der Begleiter bei der Gestaltung der Beziehung zu den Betroffenen so deutlich anspricht und offenlegt. Wir Gesunden, Nichtbehinderten, tun uns schwer, leidende Menschen zu verstehen, sie anzunehmen, ihnen auf ihrer Ebene zu begegnen, ihnen vertrauensvolle Begleiter zu sein. "Nicht die Behinderten sind unser Problem, sondern wir, die Nichtbehinderten, werden ihnen zum Problem" (S. 82). Das gilt auch für diejenigen, die beruflich mit der Begleitung kranker oder behinderter Menschen zu tun haben; uns alle überkommt in der Begegnung mit Leidenden die Angst vor der eigenen Schwachheit, vor dem eigenen Sterben. Unsere Abwehr gegen diese Angst trifft unwillkürlich die Behinderten und blockiert die Beziehungen zu ihnen. Es kann befreiend sein, wenn wir diese unsere "Behinderung" uns selbst und anderen eingestehen. Dieses Geständnis macht uns zugleich offen für die Angebote zu gemeinsamem Tun, mit denen die vom Leid Betroffenen uns entgegen kommen. Sie sind in aller Regel viel weniger behindert als wir, solche Beziehungen zu knüpfen. Wir brauchen sie, damit sie uns aus unserer Isolierung, aus der "todbringenden Beziehungslosigkeit" befreien.

Das bedeutet aber: Wir brauchen einander. "Keiner ist ohne Gaben und jeder ein Teil des Ganzen" (S. 31). "Die Gesellschaft/Gemeinde braucht die Behinderten in gleicher Weise wie die Behinderten die Gesellschaft/Gemeinde brauchen" (S. 91).

Diese Erkenntnis muss gerade auch die Gemeinde der Christen veranlassen, die Aufgabe menschlicher Begleitung neu zu durchdenken. Anfragen dieser Art sollen keinen moralischen Druck ausüben. ERIKA SCHUCHARDT setzt dem viel zitierten "Hilflosen Helfer" die "Befreiten Helfer" entgegen, die in der Freiheit eines Christenmenschen leben und denen "Ihr Helfen zur praktischen Antwort auf Gottes Handeln an ihnen wird. Eben weil sie sich selbst als von Gott Bejahte und Angenommene erfahren haben, bewegt es sie, diese Erfahrungen mit anderen zu teilen". (S. 87)

Erfahrungen des Glaubens sind es, die ERIKA SCHUCHARDT auch und gerade bei den vom Leid betroffenen Menschen entdeckt.
- Da ist ein Mensch, für den rückt die Frage nach dem "Warum?" in weite Ferne, weil er sich selbst und sein Kreuz in geradezu kindlicher Weise auf Gott abladen kann und sich von ihm getragen weiß: "Ich nehme die Geschehnisse aus SEINER Hand als für mich bestimmt an." (S. 66).
- Da ist ein anderer, der wird durch den Glauben an Gott befreit, sein Leid hinaus zu schreien und zu klagen; er schreibt, der Glaube habe ihm geholfen durch die Erfahrung, "dass unser Gott ein Gott sei, mit dem wir ringen dürfen, der sich anklagen lasse, ohne Rache anzudrohen, der größer ist als unser Herz." (S.55)
- Wieder ein anderer wird im Glauben durch die Aggression hindurch zur Annahme des Leides befähigt, so dass etwa ein blinder Mensch am Ende sagt: "Ich weiß zu gut, durch welch eine Kette von Gnadenerweisen es mir gegeben worden ist, die Blindheit in mir zu lieben." (S. 60).

Die betroffenen Menschen teilen in ihren Biographien mit, dass der Glaube an Gott sie herausgerührt hat aus ihrer Einsamkeit. Im Glauben haben sie ein Gegenüber gefunden, jemanden, mit dem sie sprechen, dem sie rückhaltlos vertrauen können. Dadurch haben sie zu sich selber gefunden, zum "Du" eines anderen Menschen, zum Gebet mit Gott, zur Gemeinschaft in der Gemeinde,

Erika Schuchardt lässt Theologen der Gegenwart zu Wort kommen, die über Leiden und Leidensfähigkeit nachgedacht haben. Dabei hat sie wieder die Betroffenen und ihre Begleiter im Blick, um sie mit möglichen Sinnangeboten vertraut zu machen. Nicht von ungefähr schließt die Darstellung der verschiedenen theologischen Ansätze mit Fragen an die Theologie:
- Die betroffenen Menschen bezeugen in ihren Lebensbeschreibungen immer wieder, dass sie im Glauben Gottes Nähe auch durch die Nähe von Menschen erfahren, die neben ihnen ausharren. Warum finden sich in der Theologie so wenig Hinweise auf das Ineinandergreifen der Bewahrung durch Gott und der Begleitung durch Menschen?
- "Kann man eine 'Theologie des Leidens' entwerfen, ohne diese beiden Dimensionen von Beziehung als entscheidende Erfahrung hineinzunehmen?
- Ist Gottes Gabe an die Menschen, die Beziehungsfähigkeit, in der Theologie ausreichend bedacht?
- Wird in der Theologie reflektiert, welche ambivalenten Kräfte des Menschen ständig am Werk sind, diese Fähigkeit verkümmern zu lassen?" (S. 110).
Ein Feld, auf dem für Theologen und Pädagogen gemeinsame Arbeit wartet.


Dr. H. Begemann, Vizepräsident der Evangelischen Kirche in Westphalen
überreicht Prof. Dr. Erika Schuchardt den Literaturpreis

Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. ERIKA SCHUCHARDT, Hannover, erhielt in einer Feierstunde im Assapheum den mit 3000 Mark dotierten Buchpreis 1984 des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien für ihr Buch "Warum gerade ich... ? Behinderung und Glaube". Die Preisträgerin kündigte an, dass sie das Geld der Bildungsarbeit mit Behinderten zur Verfügung stellen wird. "Die Begleitung Betroffener ist kein Thema der Wissenschaft", stellte ERIKA SCHUCHARDT zu ihrem Buch fest. Die Frage nach der sozialen Integration leidender Menschen müsse offen gestellt werden, die Frage, wie Begleitung auszusehen hat. Die Fähigkeit Betroffener, aus dem Leiden zu lernen, sei wesentlich abhängig vom Verhalten der Umwelt. "Es kann auch eine unangemessene Begleitung aus der Hilflosigkeit heraus geben ". mahnte die Autorin. - Vizepräsident Dr. Helmut Begemann, der namens der gastgebenden westfälischen Kirche den Preis überreichte, wies auf die Bedeutung der 2500 evangelischen Büchereien hin und hob den Wert von Büchern in einer Zeit hervor, in der es zunehmend eine "Außensteuerung des Menschen“ durch eine Flut von Bildern gehe. Das Buch von ERIKA SCHUCHARDT sei eine Lebens- und Glaubenshilfe für die Betroffenen und zugleich auch eine Anleitung für alle, Leiden zu erkennen und sich Leidender anzunehmen.