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Humangenetik - Achtung vor dem Leben

Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin-Spandau 1987
(EKD-Bericht über die 4. Tagung der 7. Synode, S.164–166 [=Humangenetik])

 

Stellungnahme zum Thema:

Humangenetik

 

Frau Professor Dr. Schroeder-Kurth: Herr Präses! Sehr geehrte Damen und Herren des Vorstandes! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich mein Referat halte, möchte ich an dieser Stelle sehr herzlich dafür danken, daß ich als Humangenetikerin von der EKD in den Vorbereitungsausschuß berufen wurde und heute hier sprechen darf. Ich habe das als sehr große Auszeichnung und als Herausforderung empfunden, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.

Ein Teil unserer Arbeit liegt Ihnen bereits vor*), so daß Sie ein wenig auf das vorbereitet sind, was ich Ihnen jetzt noch zusätzlich sagen möchte.

Der Vorbereitungsausschuß hat mir erlaubt, heute morgen aus meiner persönlichen Betroffenheit heraus zu argumentieren und nicht nochmals in einer Übersicht zu den Dingen Stellung zu nehmen, die wir Ihnen schon zugeschickt haben. Ich bin Ärztin und habe direkt mit den Menschen zu tun, die erblich belastet sind. Bitte verstehen Sie so meinen Vortrag heute morgen!

  1. *) »Orientierung Über den Sachstand in Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin« (siehe Seite 632).
  2. Vorlage des Ausschusses zur Vorbereitung des Schwerpunktthemas der Synode betreffend: Entwurf einer Kundgebung der Synode (siehe Seite 491).

Ethische Probleme in der humangenetischen Beratung

An die gestellte Aufgabe, ethische Probleme in der Humangenetik, also in einem heute allerorts diskutierten Teilbereich der Wissenschaft und zugleich der Medizin, darzustellen, kann man sich auf sehr unterschiedliche Weise herantasten.

Ich könnte dem Beispiel von Loccum folgen, wo Ende 1985 anläßlich einer Tagung der Evangelischen Akademie versucht wurde, sich gewissermaßen von außen und oben der medizinischen Ethik zu nähern: historisch, definitorisch, prinzipiell – im Blick auf Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und – das ist sehr wichtig – Vermittelbarkeit an den Hochschulen bis hin zur dringlichen Frage der Übersetzung von ethischen Theorien durch Philosophie und Theologie in Sprache. Damit werden sofort auch die ausgeformten Leitbilder und Vorstellungen vom Menschen und die Ziele wissenschaftlicher Forschung angesprochen, womit der weite Bogen bis hin zur Anwendung von Forschungsergebnissen am Menschen, am Krankenbett gespannt werden kann (1).

Man kann auch den umgekehrten Weg von der Praxis her nehmen und gewissermaßen vom Umgang mit dem Machbaren und unserem Verhalten zum Menschen Probleme mit ethischer Relevanz aufdecken, beschreiben und versuchen, dabei gemeinsame Problembereiche zu erkennen, deren Lösungen dringlich anstehen. Vielleicht lassen sich diese Probleme mit tradierten und eingeübten Handlungsbegründungen nicht mehr sinnvoll darstellen, so daß neue Ansätze für eine jetzt geltende, praktische Ethik gesucht werden müssen. Auch bei diesem mehr beschreibenden Weg ist schließlich nach den Zielen von Wissenschaft und Forschung unter Berücksichtigung von Anwendungsmöglichkeiten zu fragen, ob diese jetzt und in Zukunft noch vertretbar oder aber nicht mehr verantwortbar sind.

Dieser zweite Ansatz entspricht eher der gegenwärtigen Situation in der Diskussion um Humangenetik: Ethische Überlegungen werden im Umgang mit humangenetischem Wissen und Können sichtbar, am deutlichsten durch Reflexion über Form und Inhalte von genetischer Beratung mit ihren zum Teil kontrovers diskutierten und beurteilten Maßnahmen wie z. B. der Pränataldiagnostik oder der Anwendung von gentechnologischen Methoden bei spät einsetzenden Erkrankungen. Sie ergeben sich aus dem Spannungsfeld, das in den vergangenen Jahren unüberhörbar durch Fragen aufgerichtet wurde und lebendig gehalten wird wie: Wollen wir alles, was wir können? Dürfen wir alles, was wir können? Müssen wir alles tun, was wir können? Oder: Können wir schon alles, was wir können wollen? Und schließlich: Wissen wir denn eigentlich, was wir wollen?

Diese Fragen lassen sich weder im einzelnen noch in ihrer Gesamtheit mit einfachen Antworten abfertigen. Die Beziehungen untereinander, die Abhängigkeiten voneinander sind zu komplex, will man auf der einen Seite den individuellen Menschen mit seinen Bedürfnissen berücksichtigen und gleichzeitig sein soziales Umfeld, seine Mitmenschen und die Gemeinschaft nicht benachteiligen. Wir wollen nicht verkennen, daß das Unvermögen, auf diese Fragen konsensfähige Antworten vorzuschlagen, uns bedrückt und bedrängt; trotzdem sollten wir nicht den Versuch unterlassen, wenigstens Teilantworten zu formulieren. Vielleicht gelingt es mir auch nur, Zusatzfragen zu stellen, die für heute und morgen gelten, aber nicht mehr für das Jahr 2000. Auch fühle ich mich nur kompetent, Ihnen einige Denkanstöße zu präsentieren. Das allerdings tue ich aus eigener persönlicher Betroffenheit heraus, die aus langjähriger Tätigkeit in der angewandten Humangenetik stammt.

So möchte ich den zweiten, den Weg des Berichterstatters wählen und Ihnen ethische Probleme nahebringen, die im Bereich der Humangenetik in der Sequenz »Wissen–Können–Anwenden–menschliches Verhalten« entstanden sind und weiterhin entstehen werden.

Hierbei ist es mir ganz wichtig festzuhalten, daß die Probleme, mit denen man in der humangenetischen Beratung konfrontiert wird, zunächst Fragen und Konflikten entstammen, die für den gesamten ärztlichen Handlungsbereich charakteristisch sind. Es geht hier wie dort um die Rechte und Pflichten, die Arzt und Patient auferlegt werden, im einzelnen um Schweigepflicht, Wahrheitstreue, Schutz des Lebens, Vermeidung von Schaden, um Einverständnis für bestimmte Maßnahmen, um Aufklärung über Chancen und Risiken, um Zumutbarkeit, um gegenseitigen Respekt im Arzt–Patienten–Verhältnis.

Darüber hinaus läßt sich an einzelnen Beratungskonstellationen besonders gut darlegen und präzise orten, wo alltägliche ärztliche Ethik – die sich selbst versteht – aufhört und wo neue Dimensionen unserer Reflexion beginnen müssen, wenn es um Bearbeitung, Lösungen und Bewältigung, um Menschlichkeit und überzeugendes Beispiel gehen soll.

Der Grund dafür, daß sich die Probleme aus der genetischen Beratung zu einer Vertiefung unserer Überlegungen anbieten, ist in dem weitreichenden Einfluß zu suchen, den diese Art von Beratung auf den einzelnen Ratsuchenden, seine Familie, den Berater selbst und schließlich auch auf die Gesellschaft – damit unser aller Denken und Fühlen, auf unsere Wertvorstellungen und Lebensorientierung bereits hat, zukünftig erwerben könnte oder voraussehbar nehmen wird. Geht es doch um die Auseinandersetzung mit unveränderlichen biologischen Tatsachen, mit Erbfaktoren und deren Auswirkung für den Träger selbst, um die Konsequenzen für seine eigene Zukunft und die seiner Nachkommen (2, 3). Ratsuchende ringen um Verständnis für diese schicksalhafte Eingebundenheit in einen genetischen Status, der aus der Vergangenheit stammt und über die Gegenwart in die Zukunft weist und der jeden einzelnen Menschen in unser Weltbild und damit in die Schöpfung einfügt. Es geht individuell und gesellschaftlich um Begriffe von Krankheit und Gesundheit, um die Gewichtung und Bewältigung der eigenen Erkrankung oder ein für die Kinder drohendes Leiden, damit zugleich auch um unsere gemeinsame Verantwortung für die Zukunft (4). Nicht nur Wissen und Können wird durch den Berater vermittelt, sondern durch ihn erfolgt eine Interpretation der wissenschaftlichen Kenntnisse in einer für den Ratsuchenden, seine Fragestellungen und Bedürfnisse angemessenen Form. Damit erhält genetische Beratung die menschliche Komponente, die den Berater als denjenigen herausstellt, der in hervorragender Weise Wissen präsent haben muß, das Machbare maßvoll vermitteln kann und soll, aber gleichzeitig zwischen notwendigen Mitteilungen und Maßnahmen auf der einen Seite und Überforderung im Umgang mit Wissen oder technischen Hilfsmitteln, mit nicht–Zumutbarem oder nicht–Verantwortbarem auf der anderen Seite unterscheiden und zum Wohle des Ratsuchenden wählen muß.

Der Berater wird auf diese Weise mitverantwortlich für den Ablauf der Beratungsgespräche, für die Empfehlung oder Nichtempfehlung von diagnostischen Maßnahmen. Er wird wesentlich beteiligt an den Entscheidungen des Ratsuchenden, die dieser mit Hilfe von Information und Interpretation durch den Berater für sich selbst fällen wird.

Alle Beteiligten, der humangenetische Forscher und ärztliche Berater sowie die Ratsuchenden, empfangen ihre Wertorientierung und ethischen Normen aus allen Disziplinen der modernen Medizin, Technik und Forschung, wenn es um die Definition von Krankheit oder Gesundheit geht, aus traditioneller Prägung durch Kultur, einschließlich Philosophie und Theologie, die sich ohne Zweifel auch in den Gesetzen eines Staates und den Richtlinien z. B. für ärztliches Verhalten einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft niederschlagen. Damit spreche ich das Menschenbild und Weltbild an, das jeder von uns in sich trägt und mit dem er in Ausgewogenheit leben muß, das sich jedoch ständig wandelt und, dem Zeitgeist folgend, Ergänzungen oder Korrekturen erfährt. Für viele von uns naturwissenschaftlich ausgerichteten Forschern und Ärzten gibt es keine klaren Trennungen zwischen großen Leitlinien der Menschen– und Weltbilder: Diese möchte ich kurz charakterisieren als materialistisch–biologistisch, idealistisch, psychologisch–soziologisch und theologisch als Gottesebenbildlichkeit »Imago Dei«, wenn wir die gesamte Persönlichkeit, den ganzen Menschen meinen und das in unserem Beruf als Ärzte wie auch im Privatleben tagtäglich zu vertreten suchen.

Aus den zahllosen belastenden individuellen Beratungssituationen möchte ich exemplarisch drei komplexe Problemkonstellationen herausgreifen, die verdeutlichen sollen, welche Konflikte für den erwachsenen Patienten selbst, für diejenigen, die verantwortliche Entscheidungen über das Ungeborene treffen, und schließlich für den beteiligten Berater entstehen und bewältigt werden müssen. Ich meine nicht, daß damit alle Probleme, alle Vertiefungsmöglichkeiten, alle Blickrichtungen angesprochen sind, sondern diese Kasuistiken stehen für die Diskussionen und Reflexionen, in denen ich mich zur Zeit zusammen mit vielen anderen beratenden Humangenetikern befinde und die ich deshalb als dringlich empfinde.

1. Konflikte für den erwachsenen Patienten:

In keiner Situation erfährt der humangenetische Berater zusammen mit seinem ratsuchenden Patienten so eindringlich, daß eine einmalige Informationsvermittlung über biologische Fakten, eine präzise Diagnosestellung und die Interpretation der Befunde keine ausreichende Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung sind, wie bei der dominant erblichen, spät im Leben einsetzenden, schweren neurologischen Erkrankung Chorea Huntington. Diese Krankheit, auch Veitstanz genannt, wird durch ein einziges krankmachendes Gen hervorgerufen. Genträger erkranken meist zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr, wenn sie längst Kinder aufgezogen haben. Nach den Mendelschen Erbgesetzen hat jedes Kind eines Erkrankten ein Risiko von 50%, dieses krankmachende Gen geerbt zu haben, also auch später im Leben zu erkranken. Junge Leute fragen heute um Rat und bitten um Hilfe. Sie erleben die Erkrankung der Eltern vom Einsetzen der ersten Symptome an bis zum physischen und psychischen Verfall im Verlauf von wenigen Jahren mit, wenn sie gerade an Familienplanung denken oder bereits kleine Kinder haben (4) (S.70, ff.).

In absehbarer Zeit wird es möglich sein, in Familien mit Chorea Huntington auch bei den noch nicht Erkrankten molekulargenetisch zu untersuchen, ob sie das krankmachende Gen besitzen und infolgedessen im späteren Leben auch erkranken werden. Chancen und Risiken der genetischen Beratung und humangenetischen Diagnostik werden hier besonders deutlich: Die Erläuterungen des dominanten Erbganges bedeuten für die ratsuchenden Kinder eines an Chorea Huntington Erkrankten ein Wahrscheinlichkeitsrisiko von 50% zu erkranken und eine Wahrscheinlichkeitschance von 50%, gesund zu bleiben. Wählt der Ratsuchende den sogenannten Gentest, so entscheiden sich diese Wahrscheinlichkeiten durch die präzise Diagnosestellung. Der Ratsuchende muß darauf gefaßt sein, daß er Genträger ist und krank werden wird und daß seine Hoffnung betrogen wird, die in der Chance lag, das Gen nicht geerbt zu haben. Chancen und Risiken lassen sich nicht trennen, das eine beinhaltet das andere gleichermaßen.

Die Konflikte für die Risikopersonen in einer solchen Chorea Huntington Familie sind offensichtlich: Sie werden die Wahl haben, ob sie den Gentest zur präzisen Diagnosestellung durchführen lassen wollen oder nicht. Damit entscheiden sie auch, ob sie ein labiles Gleichgewicht, das sie mit viel Mühe zwischen Hoffnung und Risiko aufgebaut haben, aufgeben wollen und Hoffnung ohne Kompensation gegen Gewißheit eintauschen möchten. Berater und Ratsuchende müssen miteinander ertasten, welche Informationen zumutbar sind, denn nicht für alle Ratsuchenden muß die Diagnostik mit Hilfe der Gentechnologie ein Gewinn sein, und auch ein »negatives« = gutes Ergebnis kann durchaus in eine Lebenskrise führen.

Diese Sorge um die Belastung für den Ratsuchenden drückt sich in der großen Zurückhaltung gegenüber der Einführung dieser molekularbiologischen Maßnahme als Mittel der humangenetischen Beratung aus. Humangenetiker sind sich der Mitverantwortung für die Lebensbewältigung ihrer Patienten bewußt, denen man das entscheidende Ergebnis aus der molekulargenetischen Untersuchung mitteilen wird. Ganz deutlich schwingt in dieser Haltung auch die Mitverantwortung für einen eventuellen Suizid des Betroffenen mit.

Auf der anderen Seite äußern sich die Risikopersonen selbst. Sie haben sich international und national in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen und haben die Problematik bearbeitet. In ihren vielbeachteten Äußerungen fordern sie Mitspracherecht bei Einführung und Durchführung der Genteste, und sie stellen Bedingungen, die den recht unterschiedlichen Notsituationen von Risikopersonen gerecht werden sollen. So fordern sie nicht nur, das Recht auf Nichtwissen und Freiwilligkeit für den Gentest zu garantieren, sondern auch eine umfassende Vor– und Nachsorge sicherzustellen, bei der die Betroffenen in ihrer veränderten Lebenssituation Hilfe erfahren. Immer wieder weisen sie darauf hin, daß es nicht allein um die Diagnostik gehen darf, sondern daß Kranke und Risikopersonen auf die Möglichkeit einer Therapie warten (5).

Versteht sich der Berater in anderen Beratungssituationen als Experte, der Informationen auf Anfrage erteilt, sie verständlich vermittelt und bereit ist, über die sich daraus ergebenden Verhaltensmöglichkeiten mit dem Ratsuchenden zu sprechen, damit alle Aspekte, auch Konflikte, beleuchtet werden, so erfahren wir bei der Chorea Huntington–Beratung etwas Neues: Der Berater stößt an die Grenzen seiner eigenen beruflichen Verantwortlichkeit, die ganz sicher auch von seiner persönlichen Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, beeinflußt wird. Hieraus ergeben sich Überlegungen von Beratern, den Gentest ihren Ratsuchenden gar nicht anzubieten, weil man ihnen die 50% ige Hoffnung nicht nehmen dürfe, auch nicht, wenn der Fragende die Untersuchung in voller Kenntnis der Bedeutung will. Niemand kann schließlich voraussagen, welche Auswirkung die Mitteilung zukünftiger Erkrankung auf den Fragenden haben wird, auch nicht, wenn er gute Gründe für sein Wissenwollen vorgibt. Zum Beispiel bitten Risikopersonen um den Test, weil es leichter sei, auf Kinder zu verzichten, wenn man genau wüßte, daß man Genträger ist.

Das Wesentliche an der Diskussion über die ohne Zweifel tiefgreifenden und ungelösten Probleme ist, daß es hierbei nicht allein um das Wohl und die Zukunft des Ratsuchenden, um seine antizipierte Story und sein Recht auf Wissen oder Nichtwissen geht. Es geht auch um die ärztliche Fürsorgepflicht des Beraters, der vorausschauend eventuell sogar den Gentest nicht empfiehlt, oder andere Optionen, die Patienten sonst in Selbstverantwortung wahrnehmen sollten, nicht diskutiert.

2. Ethische Probleme bei Entscheidungen über das werdende Leben

Während es bei diesen Fragen um Probleme im Umgang mit Wissenszuwachs und der Verantwortung gegenüber Erwachsenen, mündigen Ratsuchenden, ging, führt uns die vorgeburtliche Diagnostik in Entscheidungsbereiche hinein, bei denen es ohne jeden Zweifel um die gemeinsame Entscheidung über Dritte geht. Hierbei meine ich ausdrücklich ratsuchende Eltern und Berater gemeinsam, und bei dem Dritten handelt es sich um das Kind, das niemand fragen kann, ob es leben möchte oder nicht. Wir maßen uns also Fremdbestimmung an, und wir sagen voller Überzeugung, daß Eltern selbst entscheiden sollten, ob sie ein krankes, behindertes Kind austragen wollen oder nicht. Die Kirchen, Politiker, Wissenschaftler, Ärzte und ihre Standesorganisationen sowie Laienverbände fordern von unserer Gesellschaft immer wieder, daß Eltern keine Nachteile erfahren sollten, wenn sie ihr krankes Kind annehmen, bekommen und aufziehen (6).

Was aber, wenn es keine Gemeinsamkeit zwischen ratsuchender Schwangeren und Berater gibt, wenn die Frau das Kind nicht austragen will, obwohl das Risiko für eine Schädigung des Kindes gering und die Krankheit selbst nicht als schwerwiegend bezeichnet werden kann. Dann – so eine Studentin in einer Vorlesung über Chromosomenkrankheiten (speziell bei einem pränatal gesicherten XYY–Befund) –, dann sei die Frau der Willkür der Macht des Beraters ausgeliefert, der keine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch stellt.

Hier kollidieren Lebensauffassungen und Erfahrungen, Wertvorstellungen und Menschenbilder, die Gewichte bei einer Güterabwägung liefern und die Beurteilung und Bearbeitung einer tragfähigen Entscheidung in der individuellen Situation wesentlich beeinflussen. Die Natur bietet keine scharfen Zäsuren zwischen krank und gesund, schwerwiegend oder nicht schwerwiegend, fehlgebildet, so wenig wie wir im Stande sind, den Begriffen »zumutbar« oder »nicht zumutbar«, »verantwortbar« oder »nicht mehr verantwortbar« die Unschärfe zu nehmen. Gerade in Grenzsituationen wird Beratern und Schwangeren deutlich, daß das Selbstbestimmungsrecht der Frau untrennbar mit einer Fremdbestimmung über das Ungeborene verbunden ist und daß die Verantwortung des Arztes für die Schwangere und ihr Kind tragisch mit der Unbestimmtheit des zukünftigen Schicksals von beiden verknüpft bleibt.

Ich darf daran erinnern, daß die Gesetze einer Gesellschaft konsensfähige Entscheidungen repräsentieren müssen. In diesem Sinne sind wir Ärzte an den Wortlaut des § 218 gebunden und ziehen uns im Streitfall darauf zurück – einen Wortlaut, der verdient, ernstgenommen zu werden; und zusätzlich auf den Artikel 2 des V. Strafgesetzes, nach dem niemand verpflichtet werden kann, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Das betrifft sowohl im Einzelfall als auch grundsätzlich Mitarbeit an einer Begutachtung und noch mehr den direkt aktiv beteiligten Gynäkologen. Jeder Arzt ist also allein seinem Gewissen und deshalb auch seiner ärztlichen und persönlichen Verantwortung verpflichtet.

Nichts leichter als das, könnte man sagen – dann wendet sich die Schwangere im Streitfall an den nächsten Arzt, der möglicherweise eine andere Grundhaltung zum Ungeborenen hat, oder es wird sogar erwartet, daß der ablehnende Arzt diese Frau an einen Kollegen weiterüberweist, mit dem Hinweis auf den Pluralismus in unserer Gesellschaft und die damit verbundenen Ermessensspielräume, die dem einzelnen zukommen.

Ein Beispiel wird uns klarmachen, daß der Arzt, Humangenetiker oder Gynäkologe genau an dieser Grenzsituation zur ethischen Reflexion herausgefordert wird. (Dem amerikanischen Ethiker John Fletcher (1987) wurde diese Herausforderung auch erst bewußt, nachdem er in einer großen Fragebogenaktion in 19 Nationen über 600 Humangenetiker nach ihrer Entscheidung in bestimmten typischen Situationen und ihren Begründungen gefragt hatte. Die Ergebnisse werden in dem Buch »Human Genetics and Ethics; A cross–cultural perspective«, Springer–Verlag, 1988 publiziert.)

Humangenetische Berater wurden in einer Fragebogenaktion gefragt: Führen Sie pränatale Diagnostik zur Geschlechtsbestimmung des Feten durch, damit die Eltern Geschlechtswahl treffen können, ja oder nein? Bei »nein«: Schicken Sie solche Eltern zum nächsten Labor, von dem Sie Kenntnis haben, daß diese Indikation für eine pränatale Diagnostik akzeptiert wird? (7)

Das Ergebnis zeigt, daß 94% aller Humangenetiker in der Bundesrepublik Deutschland dieses Anliegen ablehnen. 4% akzeptieren, und 2% schicken offenbar zu den 4% weiter. International akzeptieren 25% humangenetische Berater eine Geschlechtswahl durch die Eltern, 17% schicken weiter, 58% lehnen ab. Dieses Ergebnis entspricht dem weiten Spektrum von Berufs– und Lebensauffassungen sowie Wertvorstellungen, die durch die nicht einheitlichen Kulturen und Gesetzgebungen beeinflußt werden. Weiterschicken allerdings heißt nichts anderes als eben doch akzeptieren! Man wird dabei sehr an Pilatus erinnert, der seine Hände in Unschuld wusch. Wenn ich als Berater eine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch nicht vertreten kann, dann befinde ich mich an der Grenze meiner ärztlichen Verantwortbarkeit. Hier beginnt für uns Berater das Problem der Relativität von Beurteilung, der Relativität von der im Gesetz genannten Zumutbarkeit, zusammengesetzt aus Schweregrad der Erkrankung, Wahrscheinlichkeit für die Behinderung, Beurteilung und Interpretation der Darstellung der mütterlichen Situation (8).

Und doch steht am Ende der Diskussion: Es muß bei jedem Arzt diese Grenze geben, die er nicht zu überschreiten gewillt ist. Jeder Arzt wird früher oder später ein Nein aussprechen müssen, sobald er sich dieser Grenze bewußt wird. An diesem Nein müssen Forderungen von Schwangeren scheitern, auch wenn den Wünschen nach einem Jungen oder Mädchen viel Verständnis entgegengebracht werden kann, wenn eine Mutter nicht nochmals ein Kind mit einer Lippen–Kiefer–Gaumen–Spalte akzeptieren möchte, wenn eine Schwangere Bedingungen an die genetische Ausstattung ihres Kindes stellt, die zwar feststellbar sind, aber von den beteiligten Ärzten und Untersuchern nicht als Indikation zum Schwangerschaftsabbruch bestätigt werden können.

Vermittlung von Wissen, Erläuterungen von Techniken, Darstellungen von Können, Erziehung zum Umgang mit Erkenntnissen führt nicht nur zu einer breiten Akzeptanz von Methoden wie der Pränataldiagnostik, sondern auch zu einer zunehmenden Nutzung von Technik in immer neuen Kombinationen, in der Hoffnung auf ein problemärmeres Leben. Wo lediglich Angebot und Nachfrage als Regulativ wirken, hat Verantwortung keinen Raum mehr. Hier genau liegen die Aufgaben derjenigen, die diese Techniken einführen, in der Öffentlichkeit vertreten und im individuellen Fall Beratung vor Anwendung einschalten wollen und damit die Untersuchung in eine maßvolle Beziehung zum Menschen setzen.

3. Probleme der Berater selbst

Humangenetische Berater tragen Mitverantwortung für die Entscheidungen der Ratsuchenden, auch wenn immer wieder und sehr viel von Patientenautonomie die Rede ist. Autonomie kann nur in Gegenwart von Mitmenschen entstehen und sich nur in bezug auf diese entfalten und geübt werden. Patientenautonomie fordert ärztliche Autonomie, nur so wird der Arzt zum Partner des Beratenen und umgekehrt; nur so kann das Gefälle zwischen dem Experten und dem Laien auf einer menschlichen Ebene überbrückt werden.

Berater verweisen heute nicht mehr auf Konzepte von Beratungen, die lediglich auf einer Information zweiter Gabe beruhen. Längst ist erkannt worden, daß die Lebensgeschichte und die Persönlichkeitsstruktur, wie auch selbstverständlich die gesamte Ausbildung des Beraters einen wesentlichen Einfluß auf die Gesprächsführung und den Gesprächsverlauf nehmen (3). Ziel der Beratung ist es, den Ratsuchenden entscheidungsfähig zu machen, ihm zu helfen, mit seinen genetischen Problemen zu leben. Das gelingt freilich nicht immer. Arzt und Patient finden nicht immer zu einer gemeinsamen Sprache, und die Versuche, Wichtiges mitzuteilen und in Worte zu fassen, mögen von beiden Seiten scheitern.

Genetische Beratung hat gegenüber hausärztlicher Betreuung große Nachteile, weil die genetische Situation in einer Familie gewöhnlich nur in einer einzigen langen Sitzung besprochen wird, aber nachgehende Betreuung und Begleitung heute noch eine Überforderung der Beratungsstellen darstellt. Nur in Ausnahmefällen sieht sich der humangenetische Berater persönlich zur längeren Begleitung eines bestimmten Patienten, zum wiederholten Gesprächsangebot oder zu einer besonders begründeten Nachsorge herausgefordert. Sowohl die erwachsenen Patienten mit spät einsetzenden Erkrankungen, wie am Beispiel der Chorea Huntington gezeigt, als auch die Schwangeren, die vorgeburtliche Diagnostik in Anspruch nehmen und dann erfahren, daß sie ein krankes oder behindertes Kind erwarten und den Schwangerschaftsabbruch wählen, benötigen jedoch dringend weiterführende Betreuung durch diejenigen, die direkt an diesen Untersuchungen beteiligt waren und immer wieder aufkommende Fragen der betroffenen Patienten beantworten könnten. Für eine derartige Ausweitung von humangenetischer Beratung, wie sie aus psychosozialen Gründen wünschenswert wäre, sind die heute tätigen Berater nicht ausreichend ausgebildet. Zu Gesprächstherapie, Psychotherapie, Seelsorge, Beantwortung von Fragen nach dem Lebenssinn nach der Übermittlung eines Testergebnisses für eine schwere, spät einsetzende Krankheit wie Chorea Huntington sind nur wenige Berater willens oder fähig, obwohl die weitreichende Bedeutung einzelner Ergebnisse humangenetischer Beratung auf das Leben der Ratsuchenden erkannt wurde.

Der humangenetische Berater versteht sich eher nach den modernen Konzepten als ein Lebenshelfer, wenn es ihm gelingt, in der zur Verfügung stehenden Zeit, mit den ihm zur Verfügung stehenden Methoden die an ihn herangetragenen Fragen so zu beantworten, daß der Ratsuchende seine Möglichkeiten erkennt und nach seinem Lebenszusammenhang wählen kann. Auch wenn von einem Berater heute keine psychotherapeutische Ausbildung verlangt wird, so besteht dennoch ein hoher Anspruch an eine kompetente, verantwortungsvolle, auf den Patienten zugeschnittene und auf das Problem orientierte Beratung, die einen umfassend ausgebildeten Humangenetiker voraussetzt, der aber gleichzeitig die psychosoziale Situation des Ratsuchenden erfassen muß, seine Lebensauffassungen weitestgehend akzeptiert und ein Gespräch zu führen versteht, in dem es an ethischer Reflexion nicht fehlt. Mit anderen Worten: Ein Berater soll weniger Besserwisser, Empfehlungsgebender, Ratschläge Erteilender sein, vielmehr soll er die Autonomie des Ratsuchenden dort stärken, wo sie sich entfalten sollte.

Hierbei, wie bei jeder ärztlichen Tätigkeit, müssen die Grenzen ärztlichen Handelns sichtbar werden, und zwar gegenüber den Patienten selbst, den Kollegen und gegenüber der Gesellschaft. Die Frage, was gerade noch vertretbar für den Arzt, für den Forscher, für den Berater und für den Patienten ist, und was bereits nicht mehr verantwortbar sein wird, wird von den einzelnen Mitgliedern unserer Gesellschaft sehr heftig und sehr gegensätzlich diskutiert. Richtlinien und Empfehlungen von Gremien sind für bestimmte Fragestellungen sicherlich hilfreich, sie lösen aber das Grundproblem nicht.

Meine persönlichen Erfahrungen zum Schluß: Die Auseinandersetzung mit solchen aus der täglichen Arbeit resultierenden Problemen, auch nur ihre Aufzählung, ihre kasuistische Beschreibung in der Öffentlichkeit haben gezeigt, daß jede Diskussion ein kleines bißchen mehr Klarheit, ein paar neue Einsichten und vielleicht neue Gesichtspunkte erbrachten, auch wenn sich Lösungen der vielen aufgezeigten Probleme noch nicht für jeden befriedigend abzeichnen. Wichtig scheint mir zu sein, daß wir es wagen, diese Probleme beim Namen zu nennen. Die Zeit der Vertuschung, der Verdrängung und der Verleugnung ist vorbei, das heißt aber auch, daß wir eine Pflicht zum Problembewußtsein auferlegt bekommen haben, aus der wir nie wieder entlassen werden. Wenn diese Sensibilität für ethische Probleme in unserer Arbeit intellektuelle Bearbeitung der komplexen Vorgänge initiiert, dann werden engagierte genetische Berater ethische Entscheidungen mit einem hohen Maß an Objektivität und gleichzeitig mit Emphatie für ihre Patienten begründen und vermitteln können.

Referenzen

(Abdruck aus dem schriftlich vorgelegten Referat)

(1) Schlaudraff U (Hrsg) (1987) Ethik in der Medizin. Tagung der Evangelischen Akademie, Loccum, 13. – 15. Dezember 1985. Springer–Verlag Heidelberg Berlin New York Tokio.

(2) Fuhrmann W, Vogel F (1982) Genetische Familienberatung. Springer–Verlag Berlin Heidelberg New York.

(3) Reif M, Baitsch H (1986) Genetische Beratung; Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung? Springer–Verlag.

(4) Ritschl D (1981) Die Herausforderung von Kirche und Gesellschaft durch medizinisch–ethische Probleme. In: Evangelische Theologie 41, 6: Medizinische Ethik, S. 483 – 507.

(5) Verschiedene »Zeitungen« der Selbsthilfegruppe Chorea Huntington.

Krahnen K (1986) Genomanalyse; Behinderung – im Keim erstickt? In: Dr. med. Mabuse 11, Nr. 41.

(6) Dazu verschiedene Stellungnahmen:

  • Von der Würde werdenden Lebens. Eine Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland zur ethischen Urteilsbildung. EKD Texte 11 (1985).
  • Es werde Mensch. Zur Befruchtungs– und Gentechnik. Evangelische Frauenhilfe im Rheinland, Bonn, 1987.
  • Chancen und Risiken der Gentechnologie. Bericht der Enquêtekommission des Deutschen Bundestages. Band 12. Schweitzer Verlag, München, 1987.
  • Pränatale Diagnostik. Empfehlung des Wissenschaftl. Beirats der Bundesärztekammer. Deutsches Arzteblatt 84 (1987) 572 – 574.
  • Boban I, Hinz A (1987) Die Amniozentese; Versuch einer behindertenpädagogischen Stellungnahme. Geistige Behinderung 26: 22 – 31.
  • Schroeder–Kurth T (1985) Indikationen zur pränatalen Diagnostik. Zs. für Evang. Ethik 29:30 – 49.
  • Schroeder–Kurth T (1985) Die Bedeutung von Methoden, Risikoabwägung und Indikationsstellung für die pränatale Diagnostik. In: Reiter und Theile (Hrsg.) Genetik und Moral. Grünewald–Verlag, Mainz, S. 86 – 109.
  • Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik. Dokumentation zum Kongreß vom 19.– 21. April 1985 in Bonn, DIE GRÜNEN im Bundestag, 1986.

(7) Geschlechtswahl ist selbstverständlich nach bundesdeutschem Recht keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch! Diese Tatsache löst das ethische Problem nicht. Die Forderungen werden an Humangenetiker gestellt, und es ist jedem von uns klar, daß bei der gegenwärtigen Handhabung des §218 jede Frau nach Mitteilung eines unerwünschten Geschlechtes aus sogenannter psychosozialer Indikation einen Schwangerschaftsabbruch erreichen kann. Die Ethik–Konunission der Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik hat deshalb eine Empfehlung an ihre Mitglieder herausgegeben, nach der das Geschlecht eines erwarteten Kindes erst nach der 14. Schwangerschaftswoche mitgeteilt werden soll.

(8) Schroeder–Kurth T. (1982) Schwangerschaftsabbruch – Ethische Probleme bei der genetischen Beratung. Geist. Behinderung 4: 224 – 236.

Präses Dr. Schmude: Frau Professor Schroeder–Kurth, wir danken Ihnen sehr herzlich für diese Hilfe, die Sie uns bei der Annäherung an unser Schwerpunktthema geben. Sie haben uns in ansprechender Weise auf Konflikte blicken lassen, für die wir uns rüsten müssen, denen wir nicht ausweichen können. Ich benutze aber auch die Gelegenheit, um Ihnen und den beiden Mitbearbeitern, Herrn Dr. Barth und Herrn Dr. Frost, ebenfalls sehr herzlich zu danken für die Orientierung, die sie uns im Vorfeld dieser Synode zugeleitet haben. Es gab mancherlei Gespräche darüber, alle positiv und dankbar. Alles, was ich gehört habe, war: Dies ist eine wirkliche Hilfe. Und das möchte ich Ihnen weitergeben.

Die Sitzung wird für eine Pause bis 11.25 Uhr unterbrochen.

Präses Dr. Schmude: Liebe Schwestern und Brüder! Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich bitte Herrn Professor Ritschl, mit dem zweiten Referat zur Einführung in unser Schwerpunktthema zu beginnen.

Professor Dr. Dr. Ritschl:

(Es folgt der Abdruck des schriftlich vorgelegten Referats.)

MENSCHENWÜRDE ALS FLUCHTPUNKT
ETHISCHER ENTSCHEIDUNGEN
IN DER REPRODUKTIONSMEDIZIN UND
GENTECHNOLOGIE

Für die Behandlung unseres Themas haben wir reichliche Vorgaben:

Der Rat der EKD gab 1985 eine Handreichung »Von der Würde des werdenden Lebens« heraus. Es folgten zahlreiche Stellungnahmen sowie die Niederschriften aus den Treffen des Vorbereitungsausschusses, vor allem die »Orientierung über den Sachstand in Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin«.

  • Im April 1986 veröffentlichte das Bundesministerium der Justiz den Entwurf des »Embryonenschutzgesetzes« (das mindestens einen Teil unseres Themas berührt), im November 1986 erfolgte eine EKD–Stellungnahme zu diesem Entwurf.
    Der Synode liegt jetzt ein Entwurf für eine »Kundgebung« vor.
  • Sodann steht uns eine Überfülle an Literatur zur Verfügung, die auch dann fast unübersehbar geworden ist, wenn man nur die Bücher und Aufsätze berücksichtigt, die eine direkte ethische oder juristische Relevanz haben.
  • Ich selber blicke auf die Informationen und Anregungen von zahlreichen Konferenzen und Symposien zurück, die ich hier, in England, den USA und Australien während der vergangenen zehn Jahre besucht habe – und nicht zuletzt auf den Austausch mit meinen Heidelberger Kollegen Traute Schroeder–Kurth und Jürgen Hübner.

In engster Auswahl können aus der deutschsprachigen Literatur genannt werden:

E. Sträker (Ilg.), Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen, München usw. 1984 – H. Jonas, Technik, Medizin, Ethik, Frankfurt 1985 – St. Wehowsky (Hg.), Schöpfer Mensch? Gen–Technik, Verantwortung und unsere Zukunft, Gütersloh 1985 (dort bes. die Aufsätze von W Zimmerli und E. Benda) – R. Löw, Leben aus dem Labor, München 1985 – G. Altner, E. Benda, G. Fälgraff (Hg.) (im Auftr d. Dt. Ev. Kirchentages von K. v. Bonin), Menschenzüchtung, Ethische Diskussion über die Gentechnik, Stuttgart 1985 – R. Kollek, B. Tappeser, G. Altner (Hg.), Die ungeklärten Gefahrenpotentiale der Gentechnologie, München 1986 – Evang. Akad. Hofgeismar (Hg.), Humangenetik, Medizinische, ethische, rechtliche Aspekte, München 1986 – M. Lanz–Zumstein (Hg.), Embryonenschutz und Befruchtungstechnik, München 1986 – J. Häbner, Die neue Verantwortung jür das Leben, Ethik im Zeitalter von Gentechnologie und Umweltkrise, München 1986 – U. Eibach, Gentechnik – der Griff nach dem Leben, Wuppertal 1986 – G. Hirsch u. W Eberbach, Auf dem Weg zum künstlichen Leben, Retortenkinder, Leihmütter, programmierte Gene, Basel/Boston/ Stuttgart 1987 – H. Piechowiak, Eingriffe in menschliches Leben, Sinn und Grenzen ärztlichen Handelns, Frankfurt 198 7 – Kongregation für die Glaubenslehre (hgg. Pressedienst Dt. Bischofskonferenz, Dokumentation 1/87, 9. März 1987), Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung.

Was ist nun, angesichts eines so breiten Angebots verantwortlich erarbeiteter Gedanken und Positionen unsere heutige, spezifische Aufgabe auf dieser Synode? Sind nicht alle wesentlichen Alternativen schon erwogen worden, alle Gefahren bedacht und beklagt, die Unlösbarkeit mancher Probleme schon aufgezeigt, die konsensfähigen Zielrichtungen längst benannt worden? Und sind sich nicht Christen und Nicht–Christen in vielerlei Hinsicht in der Suche nach Antworten sehr nahe gekommen? Ja, das mag alles so sein, und trotzdem ist es möglich, unsere konkrete Aufgabe klar zu beschreiben:

  • Kirchliche, kirchen–nahe und wohl auch kirchen–fremde Mitbürger und –bürgerinnen erwarten zu Recht von der evangelischen Kirche eine klare Wegweisung oder doch zumindest eine inhaltlich umfassende und voll verständliche Klärung der ethischen Fragen, die in den neuen reproduktionsmedizinischen Techniken und in der genetischen Forschung versteckt sind. Wir müssen uns dieser Erwartung stellen. Was wir denken und schließlich auch sagen wollen und müssen, soll nicht so sehr den Wissenschaften oder der Theologie einen Gefallen antun, sondern es soll hilfreich sein für die vielen Betroffenen, es soll seelsorgerlich und therapeutisch sinnvoll und von direktem Nutzen sein für die Mütter und ihre Partner, für Kinder und für Ungeborene, für Ärzte auch und für Forscher, für Juristen und für Berater und Beraterinnen aller Art.
    Um dies zu erreichen, müssen wir unseren eigenen Versuch machen, logische und ethische Knäuel zu entwirren, große Verallgemeinerungen aufzulösen, diffuse Ängste zu überwinden und echte Gefahren zu erkennen. Wir müssen die Konsequenzen des Hörens auf das Wort Gottes sowie die Implikationen verantwortlichen Nachdenkens über die Menschenwürde an die großen Fragen herantragen, die uns die praktischen Möglichkeiten der heutigen Medizin und die genetische Forschung beschert haben.
  • Diesen Versuch können wir gar nicht unternehmen, ohne uns nach verantwortbaren Begründungen auszustrecken, die vor all dem liegen, was wir sagen und raten wollen.

Ich will Sie nun – bereichert durch die Vorarbeiten der Kollegen Martin Honecker und Traugott Koch und durch die Bibelarbeit heute morgen über Psalm 8 – zu einer Reise durch allerlei Unterscheidungen und Überlegungen einladen, die nicht immer einfach und klippenlos sein wird. Ich erwarte nicht, daß Sie als Synodale mit allen Einzelheiten einig gehen – das war auch nicht die Absicht des Vorbereitungsausschusses – aber ich hoffe doch, daß wir auf der Suche nach Begründungen und sodann in der Abfassung einer Kundgebung einen Konsens finden, den wir verantworten können und der denen hilft, die auf unsere Stimme warten und hören.

Ich gehe in zehn Schritten vor.

1.Eine notwendige Unterscheidung

Man hört und liest immer wieder, daß nicht–ärztliche Teilnehmer an den Diskussionen um unser Thema die verschiedenen Techniken der Reproduktionsmedizin und die Gentechnologie nicht auseinanderhalten. Die Humangenetiker reagieren empfindlich auf diese Verwechslung, wie kürzlich beim Kongreß der Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik in Gießen wieder zu erfahren war. In der Tat handelt es sich bei den künstlichen Methoden zur Fortpflanzung, der extrakorporalen Befruchtung, dem Embryo–Transfer, der Ersatzmutterschaft, der Kryokonservierung von Embryonen oder Sperma usw. um einen Komplex von Techniken, der als solcher mit genetischer Forschung bzw. Gentechnologie nichts zu tun hat. Ist es die Angst vor dem Unbekannten, die die beiden Bereiche als einen erscheinen läßt? Das mag gut sein. Oder liegt doch eine Berechtigung in dieser angeblich unkundigen Verknüpfung? Man muß sich zunächst folgende Unterscheidungen klar machen:

  • Biotechnologie überhaupt (ihrerseits unterteilt in klassische und neuere),
  • Gentechnologie im eigentlichen Sinn (ihrerseits unterteilt in Anwendung auf Pflanzen bzw. Tiere und in Humangenetik),
  • Reproduktionsmedizin (z. B. in–vitro–Fertilisation).

Diese Unterscheidung ist an sich recht simpel. Wissenschaftstheoretisch aufregend an ihr ist aber, daß die in diesen Bereichen angewendeten Methoden nicht immer dieselben sind. Theoriebildungen und Bewahrheitungen von Hypothesen sind in der Molekularbiologie nicht identisch mit denen in der Gynäkologie, d.h. die Zielsetzung der Forschung ist hier wie dort nicht genau dieselbe. Trotzdem aber besteht eine gegenseitige Abhängigkeit, und zwar derart, daß die Praxis, also die Reproduktionsmethoden der extrakorporalen Befruchtung, die Theoriebildung in der genetischen Forschung vorantreiben kann. Die weitere Forschung hängt also von der Praxis teilweise ab. Nimmt man nun noch hinzu, daß die Humangenetik in hohem Maße von genetischer Forschung im pflanzlichen und tierischen Bereich bestimmt ist, so erkennt man eine Vernetzung, die nicht nur wissenschaftstheoretisch interessant und vielschichtig ist, sondern die auf allen Ebenen ethische Probleme aufweist! Weil die genetische Information im nicht–menschlicheii und menschlichen Leben im Prinzip nicht unterschiedlich ist, kann Humangenetik nicht als isolierte Wissenschaft funktionieren; und wollte man sie in ihrer Forschung durch ethische Verbote oder Grenzziehungen bestimmen, so wäre damit ihr »Hauptlieferant«, die außerhumane Genetik, noch gar nicht erreicht.

Man sieht also: trotz der klaren Unterscheidung der Forschungs- und Praxisgebiete besteht eine enge Abhängigkeit der humanen Genetik von der Forschung an nicht–menschlichem Leben und zudem von der Praxis bzw. einem Teil der Praxis der Reproduktionsmedizin. Auf allen Ebenen sind ethische Probleme angesiedelt, vom Tierversuch bis zu Experimenten an Embryonen, von der Anwendung der Forschung auf bakterielle Kriegführung bis zur heute noch etwas ferneren genetischen Manipulation am Menschen. Insofern ist vom Interesse der Ethik her die von den Experten beklagte Verwischung der Grenzen zwischen Genetik und Reproduktionsmedizin so unrichtig nun auch wieder nicht.

2. Wissenschaft – frei aber nicht wertfrei

Freilich bemühen sich alle gewissenhaften Wissenschaftler um einen möglichst hohen Grad an Objektivität in ihren Forschungen. Aber durch diese Zielsetzung wird das wissenschaftliche Suchen als solches nicht wertfrei, erst recht nicht die Ergebnisse, die durch die Forschungsplanung nicht selten schon in Umrissen deutlich sind. Auch unabhängig davon, wie man die heutigen Theorien über den Fortschritt der Forschung ansieht, d.h., ob man an einen stetigen oder ruckartig-revolutionären Fortschritt glaubt, wird man zugeben, daß Forschung nahezu immer geplant vorgeht. Wer forscht, hat zumeist schon eine Vision der möglichen Ergebnisse, ist also nicht eine geschichtslose Denkmaschine, die nur den winzigen Schritt vom heute analysierten Problem zum morgigen Experiment bedenkt.

Für die Gentechnologie, aber auch für die Verbesserung der Methoden in der Reproduktionsmedizin, heißt dies, daß die Beteiligten durchaus in der Lage sind, die Folgen ihrer Forschung abzuschätzen, vor allem aber auch, Mißbräuche ihrer Erkenntnisse vorauszusehen. Die Folgen sind absehbar, wenn die Forschungsergebnisse von Keimbahnmanipulationen bei Pflanzen und Tieren auf den Menschen übertragen werden, ebenso absehbar ist der mögliche Mißbrauch der Methoden der Kryokonservierung (Einfrierung von Samen und Embryonen) über lange Zeitabstände, die Produktion von Embryonen für Entgelt, wie auch der absurde Mißbrauch des know-how, ein befruchtetes Ei irgendeiner Frau zu implantieren. Wenn schon ethisch verantwortliche Bürger ohne großes Fachwissen solche Entwicklungen und Fehlentwicklungen vorraussehen können, wieviel eher noch die Fachleute selber.

Freilich können wir keine neuen »Fall Galilei« wünschen, keine Bevormundung der Wissenschaft durch die Kirche, die UNESCO oder eine andere Stelle! Zudem wäre der Versuch einer Bremsung höchstens in kleinen geographischen Bereichen möglich, niemals weltweit. Es gilt auch zu bedenken, daß »die Wissenschaft« nicht als ethisches Subjekt angesprochen werden kann. Sie wird, wie Hannah Arendt schon 1908 sagte, von der »Niemandsherrschaft« gesteuert. Appelle sind nur an Wissenschaftler, nicht an die Wissenschaft sinnvoll. W. Zimmerli (Schöpfer Mensch ? 1985) plädiert darum mehr für ethische Neuorientierung als für rechtliche Regelungen (S. 58–62). Andererseits gilt aber auch, daß die Freiheit der Forscher Freiheitsrechte anderer tangieren kann und damit das durchaus rechtlich faßbare Phänomen der Begrenzung von Freiheit darstellt.

Nach der Verdächtigung der Naturwissenschaften bis weit ins 19. Jahrhundert hinein folgte die Periode der Vergötterung und grenzenlosen Hochschätzung. Wird sie in unserer Zeit mit ihrer Angst und ihren Sorgen um die Zukunft durch eine neue Verdächtigung und Verteufelung abgelöst? Daß nicht alles Machbare ethisch ist, ist eine Binsenwahrheit, die auch früher schon galt. Unsere berechtigten Sorgen sowie unsere Ermahnungen an die Wissenschaftler, ihr Programm des wissenschaftlichen Zweifelns und Hinterfragens auch auf sich selber zu richten, sollten sich bei vernünftigen Christen in vernünftigen Grenzen halten. Panik mag gegenüber politischer Unvernunft angebracht sein, nicht gegenüber wissenschaftlicher Forschung in Risikogebieten. Gesetzlich definierte Einschränkungen sind jedenfalls sinnvoller als apokalyptische Warnrufe.

Die Interessen der Wissenschaft und der Wirtschaft sind – zumindest im Bereich unserer Problematik – nicht identisch mit den Interessen der Gesellschaft. Aber das Faktum, daß gentechnische Forschung nicht von breitem gesellschaftlichem Konsens getragen ist, besagt ethisch wenig, zumal es genügend Beispiele für solchen Konsens in der Rechtfertigung unethischer Maßnahmen gibt. Was ethisch richtig ist, bestimmt nicht einfach eine Mehrheit in der Gesellschaft – in diese Zeiten wollen wir nicht zurückfallen!

3. Die Suche nach ethischen Maßstäben

Es gibt freilich kein allgemein akzeptiertes System philosophischer oder theologischer Art, um Appelle an die Wissenschaftler zu richten und um die Praxis in der Medizin zu regeln. Zu verschieden sind die Traditionen der unterschiedlichen ethischen Kulturen, die Vorstellungen vom Sinn und Ziel des Lebens, von Krankheit und Tod, Sexualität und Familie. Auch innerhalb der christlichen Kirche ist es in 19 Jahrhunderten nicht gelungen, eine einheitliche Ethik zu gestalten. Das liegt freilich in nicht geringem Maß eben daran, daß sich die Kirche in den verschiedenen Kulturen ausgebreitet hat, dort beeinflußt wurde und die Vorstellungen von Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Sinn des Lebens mitgestaltet hat. Aber es ist doch erstaunlich, daß sich die Gedanken über die Würde des Menschen über alle Differenzen hinweg mehr und mehr aneinander angenähert haben.

Das war schon einmal so in der Spätantike, als die Menschenrechtsphilosophien der Stoiker viele Menschen begeisterten und in ihrem Denken bestimmt haben. Dieses ethische Gedankengut ist untergründig nie vergessen worden. Es taucht im Mittelalter wieder auf, ist bei Calvin von großem Einfluß gewesen und bestimmte die frühen Vorstellungen von Demokratie in neuerer Zeit. Mit dem Gedanken der Menschenrechte war die Idee der Menschenwürde untrennbar verknüpft. Als markante Stationen kann man an Henri Dunants Gründung des »Roten Kreuzes« denken, an Tolstoi und an Albert Schweitzers Ideal der Ehrfurcht vor dem Leben. Aber auch im Völkerrecht, sowie in internationalen Konventionen zeigt sich das Ideal.

Die internationale Anerkennung der Menschenrechtsdeklaration von 1948 und die darauffolgenden Pakte und Konventionen sind ein ganz entscheidender Markstein in der Entwicklung auf eine universale Ethik hin, zumindest auf ein Minimalgerüst für eine solche Ethik. Könnte es sein, daß die Menschen zu Beginn des neuen Jahrtausends trotz ihrer verschiedenen Traditionen, Moralvorstellungen und Ziele sich im gemeinsamen Interesse an allgemeinen Menschenrechten und den damit gegebenen Idealen der Menschenwürde finden werden? Ich glaube es. Freilich werden die Interpretationen der Rechte und der Würde des Menschen noch stark differieren, so wie heute z. B. in der KSZE-Konferenz von Helsinki und ihren Folgetreffen. Aber ein entscheidender Anfang ist bereits gemacht.

4. Das christliche Verständnis von Menschenwürde

Ich habe gerade so getan, als seien Menschenrechte und Menschenwürde nahezu austauschbare Begriffe. Zudem habe ich kein Wort darüber verloren, ob es sich hier um einen biblischen, einen von Juden und Christen zu verantwortenden Begriff handelt. Meine Aussagen waren darin recht unscharf. Das geschah mit Absicht, denn ich will mit diesen breiten Äußerungen tatsächlich sagen, der Begriff der Menschenwürde sei ein Ideal, ein Fluchtpunkt für ethische Entscheidungen, der von Christen – Juden und Christen – total bejaht werden kann. Sie werden ihn dadurch nicht in ein christliches Postulat verwandeln. Wohl aber können sie ihn mit den ihnen zentral wichtigen Glaubensanliegen aufs neue füllen und damit für andere – auch für Nicht-Christen – bereichern. Genau dies sollten wir in der medizinischen Ethik insgesamt und speziell im Hinblick auf unsere Thematik von Reproduktionsmedizin und Gentechnologie tun.

Die Wahl des Begriffs der Menschenwürde für die heute diskutierte »Kundgebung« wie auch für die römisch-katholische Stellungnahme vom Frühjahr 1987 halte ich für sehr glücklich und kaum durch eine Alternative ersetzbar.

Aber was heißt denn »Menschenwürde« für uns Christen? Der Begriff als solcher ist nicht der Bibel entnommen, jedenfalls nicht direkt. Das soll uns nicht stören, denn es gibt eine Fülle von wichtigen Zielen, Begriffen, Werten und Idealen, die als solche nicht »per Zitat« aus der Bibel geholt werden können. Eher kann man mit gutem Recht schon umgekehrt argumentieren: Ohne die Bibel und den Einfluß der Christen wäre es wohl nicht zur Entwicklung eines Menschenrechts- und Menschenwürde-Gedankens in der abend- und morgenländischen Welt gekommen, jedenfalls nicht zu dieser Entwicklung.

»Menschenwürde« ist für uns so etwas wie ein hilfreiches Kürzel, eine Summierung eines längeren Credos. Das Credo lautet etwa so: Der Gott Israels, den wir bekennen, der Jesus Christus gesandt hat, ist ein Gott, der durch Erwählung – durch Rufen sozusagen – Leben aus dem Tod, Licht aus der Dunkelheit, Liebe aus dem Haß, Shalom aus dem Krieg aller gegen alle schaffen kann und wirklich schafft. Er tut dies in Hinwendung zu den Menschen als unverwechselbaren Wesen, unaustauschbaren Geschöpfen, er provoziert deren Rückantwort in Lob und Dank, macht aber seine Hinwendung davon nicht abhängig.

So ungefähr kann man in recht untheologischer Sprache unser Credo paraphrasieren. Es summiert sehr zentral unser christliches und besonders unser reformatorisches Bekenntnis. Immanuel Kant hat dies überzeugend auf einen formalen Nenner gebracht, als er über den Menschen als Zweck seiner selbst, nicht als Mittel zum Zweck anderer – etwa zu ihrer Bereicherung durch Ausbeutung – sprach. Die formale Bestimmung läßt sich aber inhaltlich füllen: »Menschenwürde« heißt, ein individuelles Wesen sein zu dürfen, zur Partnerschaft eingeladen und bestimmt, eine eigene Person zu sein; angelegt darauf, von den Mitmenschen als solche angesprochen und gewürdigt zu sein. Menschenwürde zeigt sich in der Fähigkeit der Menschen, sich aus Vernunft Sozialstrukturen, Konventionen und Gesetze zu geben und damit die Würde der Menschheit – humanitas – zu bewahren.

Formal kann man richtig sagen: Menschenwürde sei ein Beziehungsbegriff. Damit ist nach christlichem Verständnis nicht nur gemeint, ein Mensch stehe in Beziehung zu seinen Mitmenschen, sondern in einem ganz ursprünglichen Sinn sei Gott bereits in dieser Beziehung, ja, er habe diese Beziehung konstituiert.

Das ist die Bedeutung des Satzes, daß Gott den Menschen – Mann und Frau – nach seinem Bild, in der imago Dei gemacht hat.

Und das verstehen wir – wir Juden und Christen – als Schöpfung. »Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.« Die Würde eines Menschen erweist sich darin, daß sie ihm andere Menschen erweisen – so wie Gott seine Liebe und Hinwendung darin erweist, daß er sie wirklich anbietet. Man kann das auf einen recht einfachen Nenner bringen und z. B. sagen: Wer einen anderen Menschen quält und zerstört, verneint nicht nur dessen Menschenwürde, er zerstört und verhöhnt auch seine eigene. Oder: Wer ein Tier quält, handelt menschenunwürdig.

Diese Einsicht wird uns noch im Hinblick auf Embryonen beschäftigen. Sie hat zumindest die Kraft eines negativen Kriteriums, eines »Kriteriums der Widersprüchlichkeit«, sie sagt, was menschenunwürdig ist.

Mit diesen Überlegungen kommen wir zur Einsicht, daß die Würde eines Menschen zwar ihm eigen ist, genau ihn als diesen Mann, diese Frau, dieses Kind, diesen Gesunden, diesen Kranken betrifft, daß die Würde aber nicht sozusagen »natürlich« im Menschen sitzt oder wohnt, sondern dem Menschen zugesprochen wird. Der imago Dei Gedanke wäre mißinterpretiert, würde man ihn als eine dem Menschen physiologisch innewohnende Qualität verstehen. Wäre Robinson Crusoe nie unter Menschen aufgewachsen, so hätte er auf seiner einsamen Insel auch nicht das, wovon wir hier reden: Menschenwürde. So aber hat er sie in Erinnerung und betet zu seinem Gott – jedenfalls in der sentimentalen Erzählung dieses Buches – und bewährt sie, als andere Menschen auf seine Insel kommen. M. a. W.: die Würde des Menschen ist aus einem Vergleich mit hochentwickelten Tieren nicht ablesbar. Dasselbe wird wohl für die Agglomeration von Zellen gelten, die ein Embryo ausmachen. Wenn die Würde auch nicht physisch oder »natürlich« im Einzelmenschen lokalisiert ist, so betrifft sie doch fundamental seine Individualität, die Unverwechselbarkeit und Unvertauschbarkeit gerade dieses Menschen. Diese zugesprochene einmalige und unverfügbare Qualität betrifft auch solche Menschen, die davon nicht wissen, sie nicht beanspruchen oder sie durch ihr Verhalten gar verneinen.

5. Schöpfung ist nicht identisch mit Natur oder mit Leben

Unser Tagesthema lautet:

»Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.« Es besteht nun aber eine Schwierigkeit mit der theologischen Schöpfungslehre:

  • man kann nicht einfach sagen: »alles was ist, ist gottgewollt«, denn das würde auch geschichtliche Ereignisse wie Vernichtungskriege, Auschwitz, Umweltzerstörungen umfassen,
  • auch kann man nicht einfach sagen: »alles Leben ist von Gott gewollt und geliebt, so daß wir möglichst viele Leben, möglichst viele Wesen, die atmen, produzieren sollten.« Nach meinem Verständnis des oben summierten Credos ist es nicht sinnvoll zu sagen, eine Familie in Calcutta sollte lieber 18 als nur 10 Kinder haben. Vielleicht ist es Gottes Wille, daß sie nur ein oder zwei Kinder hat.
  • Es ist sicher richtig und biblisch, von »Gottes geliebter Schöpfung« zu reden, aber es muß klar sein, daß damit nicht nur die gesunden und konkurrenzfähigen Menschen, der gesunde Wald, der gut funktionierende Rechtsstaat gemeint sind, sondern auch die Krüppel und Debilen, die AIDS-Kranken und Alkoholiker, die sterbenden Bäume und die korrupten Regierungen.

Wenn wir so reden, türmen sich natürlich die Probleme. Einmal ist es klar, daß der Satz »geliebt von Gott« nicht identisch ist mit dem Satz »gewollt von Gott«. Mit dieser Unterscheidung läßt sich noch leben. Aber schwieriger wird es mit den Sätzen über das Leben. Sollte es Leben geben, das nicht gottgewollt ist? Die überzähligen Kinder in Calcutta, oder die Down-Syndrom-Kinder bei uns? Und vollends die dritte These: die geliebte Schöpfung umfaßt auch die zerstörte Natur, vielleicht auch das Böse. Wie werden wir damit fertig? Geht hier nicht alle Rede vom »Willen Gottes« ins Leere, weil nun doch Zustände, Menschen, Ereignisse Wirklichkeit werden, von denen wir vor ihrer Entstehung sagten, sie seien »gegen Gottes Willen«? Oder ist es so, daß auch das Nicht-Gott-Gewollte, wenn es einmal da ist, von Gott geliebt wird? So läßt sich auf Grund des Evangeliums vielleicht denken. Aber könnte das nur gelten für das Schwache, Kaputte, Beschädigte, Gedemütigte, Vernachlässigte und nicht auch für das Zerstörerische, den Terror, die Krankheit als solche, die genetische Schädigung?

Wir sehen, es sind Unterscheidungen nötig. Man kann die Natur, das Natürliche, nicht einfach mit der Schöpfung Gottes gleichsetzen. Aber die bekannte Unterscheidung zwischen dem Bösen, das Gott nicht liebt und den bösen Menschen, die er trotzdem liebt – die Sünde nein, den Sünder ja – ist doch allzu einfach. Der alternde Sir Isaac Newton hat davon etwas geahnt, als er den Gedanken dachte – ohne ihn jedoch zu publizieren, weil er ein braver Sohn seiner Kirche war – das Geordnete, die schönen Bahnen der Planeten, sei vielleicht die Ausnahme, das Chaos und die Unordnung dagegen die Norm. Vielleicht sind wir nur darum in Versuchung, die Ordnung und Regelmäßigkeit – die Gesundheit und Normalität – sozusagen an die Seite Gottes zu stellen, weil wir nur dort unsere Öko-Nische finden konnten, wo statistisch gesehen eine relativ hohe Dichte von Ordnung besteht, die uns das Überleben erlaubt. Das mag unsere Augen trüben für die »wahren Verhältnisse«: daß die meisten Samen keine Frucht hervorbringen; daß viele befruchtete Eier durch natürlichen Abort abgehen; daß die großen Fische die kleinen fressen und die Kreatur unendlich leidet, lange schon bevor die Hominiden und die Menschen auf den Plan kamen; daß sich immer nur Oasen der relativen Ordnung inmitten von auseinanderfallender Unordnung finden, so wie etwa unser Sonnen-System und die Nachbarsysteme inmitten auseinanderrasender Galaxien. Freilich unterscheidet heute kein Naturwissenschaftler zwischen »Ordnung« und »Chaos«, weil man längst weiß, daß es nur Felder statistisch beschreibbarer Dichte von Regelmäßigkeit gibt. Aber die Frage bleibt: ist Gott von uns automatisch auf die Seite der Ordnung und Normalität zu denken?

Vollends hoch problematisch werden diese Überlegungen, wenn wir von der außermenschlichen Natur auf die sozialen Systeme der Menschen übergehen und Rechtsstaat und Unrechtssysteme, auch persönliche Qualitäten wie Güte und Bosheit einander gegenüberstellen. Sind die menschlichen Institutionen nicht Teil der Schöpfung? Sind sie etwa nur Ausbuchtungen eines an sich perfekten, natürlichen Systems? Die Theologie hat hier mit ihrer Tradition aus dem Mittelalter zu kämpfen: Ist die Schöpfung im eigentlichen Sinn mit dem »Natürlichen« identisch, das durch Menschen verdorben oder auch durch Gottes Gnade vervollkommnet werden kann? Die »Schöpfung« – so müssen wir von der Bibel her sagen – ist nicht einfach identisch mit der Natur oder mit dem Leben. Die Unfertigkeit und Defizite der Welt – der von Gott gesehen »guten Schöpfung« – erscheinen in neuem Licht, wenn wir die biblischen Passagen über die »neue Schöpfung« lesen. Hier bricht für uns im Fragebereich der medizinischen Ethik das Problem auf, ob medizinische (auch therapeutische, seelsorgerliche) Heilungen etwas zu tun hätten mit »Neuschöpfung«. Oder sind sie nur Reparatur des Alten, der alten Schöpfung? Ich glaube, daß sie Anzeichen sind, sozusagen kleine Predigten, für Gottes erhoffte Neuschöpfung.

Es ist auffällig, wie oft man heute in christlichen Appellen, z.B. in ökologischen Fragen, auf die Schöpfung Bezug nimmt. Aber man tut das gewöhnlich askriptiv, nicht deskriptiv, d.h. man appelliert letztlich an den Schöpfer, kann aber nicht genau dartun, wie von da her Aussagen abgeleitet werden können, die ethisch hilfreich sind. Sie bleiben zumeist im Appellativen stecken. Kurz gesagt: Wir können eben nicht einfach behaupten: »Weil Gott der Schöpfer dieses schwerstgeschädigten Embryos ist, können wir es unmöglich abtreiben«. Der Grund für den Schutz auch dieses Embryos liegt nicht im »Natürlichen« oder im Grad seiner Normalität oder Abnormalität, sondern im Zusprechen der Würde entstehenden Lebens durch uns – letztlich durch Gott. Der Grund also für die Hemmung, den Embryo zu töten, liegt nicht eigentlich in Gottes Schöpfer-sein – sonst könnten wir kein einziges Tier töten! – sondern in der Menschenwürde, die wir – wegen Gott – auch diesem Wesen zusprechen. Wenn wir es trotzdem töten, so darum, weil wir die Würde der Mutter und Geschwister gegen die des Embryos aufrechnen. Dadurch machen wir uns schuldig, aber wir können manchmal nicht anders. Wenn wir es tun, dann aber nicht, weil wir quantitative Überlegungen anstellen können, die uns zum Schluß führen, gerade dieses Wesen sei nun unterhalb der Menschenwürde-Markierung.

6. Was sind theologisch-ethische Begründungen?

In der Kirche und Theologie haben wir uns – aus welchen Gründen auch immer – angewöhnt, nach einlinigen, unipolaren »theologischen« oder »biblischen Begründungen« für eine Aussage, für eine ethische Position zu suchen. Aber damit greifen wir oft ins Leere oder zwingen der Bibel und der theologischen Argumentation eine Beweiskraft auf, die sie nicht liefern mögen. Man muß ohnehin unterscheiden zwischen möglichen und notwendigen biblischen Begründungen und Ableitungen – die meisten sind »möglich« und dulden eine Reihe von Varianten, nur sehr wenige sind notwendig und einlinig.

Aber auch abgesehen davon ist es unklug, für komplexe ethische Probleme umpolare biblische oder theologische »Begründungen« zu suchen. Wie wollte man z. B. die Einehe, die Familie, das Ideal des Rechtsstaates u. ä. sozusagen einlinig oder ausschließlich aus der Bibel »begründen«. Ich habe versucht, dies zu zeigen in: Zur Logik der Theologie, München 1984, I F u. H.

Ich halte demgegenüber das »Stuhlbein-Modell« für sinnvoller, wenn es um Begründungen in der theologischen Ethik geht: So wie ein Stuhl auf mehreren Beinen steht, so können auch ethische Positionen multiple Begründungen verlangen, auf mehreren Begründungsketten aufruhen. Die komplexe Struktur von manchen Problemen verlangt solche multiplen Begründungen sogar sehr dringend. Das Problem der Unfruchtbarkeit zum Beispiel, verbunden mit dem Wunsch nach einem Kind, das zur extrakorporalen Befruchtung Anlaß geben kann, ist ein solches Problem. Hier können zur Lösung sowohl theologische Argumente (»Es gibt kein gottgewolltes Recht auf Kinder« oder ähnlich) wie psychoanalytische (»Kinderwunsch in narzißtischem Drang zur Selbstverwirklichung mag den dann geborenen Kindern Schaden zufügen«, oder ähnlich), als auch soziologische und psychologische (»Es gibt doch ein Recht auf Nachkommen«) Überlegungen zusammenwirken oder auch sich widerstreiten. Jedenfalls sind multiple Begründungen einer ethischen Position der Komplexität eines Problems eher angemessen. Zu ihnen können auch finanzielle, ästhetische und politische Gründe hinzukommen, die damit alle Teil der ethischen Argumentation werden.

7. Die Bedeutung von Negativ-Katalogen

Daß direkte, unipolare Begründungen aus der Bibel und der christlichen Lehre schwierig und relativ selten möglich sind, gilt vor allem für positive Forderungen, die jedoch zumeist von allgemeinerem Charakter sind und Konkretion vermissen lassen, wie z.B. das Liebesgebot. Es gilt aber nicht für negative Urteile oder Warnungen, die leichter unipolar aus Bibel und christlicher Tradition abgeleitet werden können. Dieses Phänomen ist auch außerhalb biblisch-theologischer Zusammenhänge bekannt, so sind z.B. ökologische Regeln viel leichter negativ als positiv-präskriptiv zu fassen, auch bei Abrüstungsverhandlungen läßt sich das beobachten.

Es ist kein Abgleiten in »Gesetzlichkeit«, wenn theologische Argumente Negativ-Kataloge ermöglichen, z.B. die Folter verbieten oder die Produktion von Embryonen zu Verkaufs- und Versuchszwecken, die ungehemmte Anwendung von heterologer Insemination oder in-vitro-Fertilisation mit beliebigen Partnern oder auch die kommerzielle Vermietung der Gebärmutter, die Herstellung identischer oder tier-menschlicher Wesen usw. Die Negativ-Markierungen sind durch unser Verständnis der Menschenwürde recht eindeutig anzugeben. Schwieriger ist es, die tolerierten Ausnahmen diesseits der Markierung ausfindig zu machen: könnte doch einmal eine Folterung eines Menschen ethisch erlaubt oder geboten sein, wenn z.B. ein Terrorist allein weiß, wie man die Sprengung eines A-Werkes durch seine Komplizen verhindert? Gibt es Bedingungen, unter denen die Produktion von Embryonen für Versuchszwecke doch gerechtfertigt und heterologe Insemination in breitem Rahmen geboten wäre?

8. Quantifizierbare Entscheidungen

Wir sind von Kindheit an gewohnt, bei ethischen Problemen zwischen gut und böse, richtig und falsch zu unterscheiden, wie wir es letztlich von den Griechen gelernt haben. Aber eine Fülle von ethischen Problemen, besonders in der medizinischen Ethik, läßt sich nicht befriedigend mit diesen qualitativen Größen erfassen und lösen. Oft können wir nicht umhin zu quantifizieren, z.B. im Hinblick auf das Alter von Patienten, die abgeschätzte Belastbarkeit von Müttern und ihren Familien, die Kosten für eine Behandlung usw.

Diese Beobachtung verleiht den Überlegungen über die große Kraft negativer Kriterien zusätzliches Gewicht. Solche Kriterien sind nicht den quantifizierenden und damit eventuell relativierenden Gesichtspunkten unterworfen: Wer sagt, die Leihmütterpraxis verstoße gegen die Menschenwürde, spricht kein quantifizierbares ethisches Argument aus; wer gegen heterologe Insemination votiert, argumentiert nicht innerhalb einer quantifizierbaren Problemstruktur. Aber die meisten anderen Probleme in unserm Fragefeld sind in der Tat quantifizierbar, z. B. bei der Abschätzung der Schwere einer genetischen Schädigung, die einen Abbruch rechtfertigt (zumindest bei gleichzeitiger Abschätzung der Belastbarkeit der Mutter), ebenso die Entscheidung, ob Experimente mit Embryonen bis ca. zum 14. Tag – orientiert an der Nidation im angenommenen Fall des Nicht-Abbruchs – zu tolerieren seien.

Bei diesen Überlegungen hat sich die Unterscheidung zwischen »Jetzt Dringlichem« und »Bleibend Wichtigem« bewährt. Damit meine ich die Differenz zwischen Problemen, die sich uns heute als absolut konkret und unumgehbar aufdrängen und solchen, die seit jeher bekannt waren und auch in Jahrzehnten und Jahrhunderten noch als echte Aufgaben und Probleme erkannt werden. Die Technik, die Politik und der Alltag bescheren uns das »Jetzt Dringliche«; in den Konditionen der menschlichen Natur und Geschichte, in Gott letztlich, finden wir das »Bleibend Wichtige«. Das Dringliche können wir nur lösen, wenn wir Visionen vom »Bleibend Wichtigen« haben, aber zu ihm haben wir nur Zugang über die Qual der Auseinandersetzung mit den jetzt brennenden Fragen, dem »Jetzt Dringlichen«. Wer in seinem ethischen Engagement ganz im »Jetzt Dringlichen« aufgeht, verliert die Orientierung und die Beziehung zu den Gründen des Glaubens und des Lebens; wer sich nur mit dem »Bleibend Wichtigen« befaßt, verliert die Welt, in der wir leben.

Wenden Sie dies an auf unsere Probleme: Wer nur über die heute und morgen möglichen Gefahren der Reproduktionsmedizin und Gentechnologie nachdenkt, verliert die Perspektive für die wirkliche Zukunft; wer nur über Menschenwürde, über Natur und gottgewollte Geschöpflichkeit grübelt, verliert den Kontakt zu den echten Fragen von heute. Es gilt, beides zusammenzuhalten.

Nicht in jedem Fall, aber oft, sind Probleme im »Jetzt Dringlichen« quantifizierbar, im Bereich des »Bleibend Wichtigen« hingegen qualitativer Art.

Vgl. meinen Versuch, dies genauer zu analysieren in: Zur Logik der Theologie, I F und III B sowie die Abschnitte über medizinische Ethik in: Konzepte, Ökumene, Medizin, Ethik, München 1986, S. 201 ff.

9. Rechtliche Kriterien

Es besteht kein Zweifel, daß die rechtlichen Fragen, die durch die modernen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie aufgeworfen sind, mit den ethischen Fragen nicht identisch sind, sich jedoch mit ihnen in komplexer Weise berühren und teilweise überschneiden. Die engsten Berührungen finden dort statt, wo ethische Überlegungen zu Negativ-Katalogen führen, denn auch die Kraft juristischer Argumente ist dort am stärksten, wo es um die Grenzziehungen geht.

Solange unsere Diskussion nur auf den Bereich der Bundesrepublik konzentriert ist, fällt uns die Begrenzung der juristischen Argumente und die Reichweite ihrer Geltung nicht weiter auf. Machen wir uns aber die Sorgen der Weltgesundheitsorganisation (W.H.0.) zu eigen, so sehen wir klarer, wie schwierig es ist, universalisierbare juristische Argumente zur Lösung der Probleme – oder zumindest zur Eingrenzung von Mißbrauch – geltend zu machen.

Vgl. E. Deutsch, Gentechnologie und Recht, in: Zeitschr. für Rechtspolitik 1985, S. 73ff. – E. Benda, Die Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: Aus Politik u. Zeitgeschichte, Beilage z. Wochenzeitung Das Parlament B, 3/85, S. 18ff. – E. Benda, Humangenetik und Recht – eine Zwischenbilanz, in: Neue jurist. Wochenschrift 1985, 1730ff. – A. Laufs, Rechtliche Grenzen der Fortpflanzungsmedizin, Sitzungsber d. Heidelberger Akad. d. Wiss. (Phi.–hist. Klasse), Jg. ’87, Bericht 2, Heidelberg 1987.

10. Konsequenzen

Wir sind jetzt ausgerüstet mit einer Reihe von Einsichten, die wir auf den Begriff gebracht haben und mit denen die konkreten Probleme, die durch moderne Fortpflanzungsmedizin sowie Gentechnologie entstanden sind, angegangen werden können. Es sind vor allem folgende sechs:

  • Der Fortschritt der Forschung in der freien aber nicht wertfreien Wissenschaft läßt sich von ethisch verwerflichen Zielsetzungen eher durch Appelle an die Wissenschaftler als durch gesetzgeberische Maßnahmen abbringen, wiewohl neue Gesetze in ihrer regionalen Begrenzung durchaus zur Absicherung der Appelle erstrebenswert sind.
    Theologisch verantwortete ethische Urteile folgen wegen der Komplexität der Probleme oft dem Stuhlbein–Modell, d. h. eine Problemlösung oder Empfehlung ruht oft nicht nur auf einem der Bibel oder der Lehre entnommenen Argument, sondern auf einer Kombination von theologischen, juristischen, psychologischen und anderen Begründungen.
  • Negative ethische Kriterien (Abwehrargumente, Widerspruchskriterien) sind oft eindeutiger zu begründen als Forderungen. Ethische Negativkataloge sollten von Theologen nicht als »gesetzlich« abgelehnt werden.
  • Die Menschenwürde ist das zentrale ethische Kriterium; Christen füllen es mit ihren Glaubensinhalten in besonderer Weise, indem sie von der Zuwendung des Schöpfers zum Einzelmenschen sprechen sowie vom Willen Gottes für ein menschenwürdiges Gelingen des Lebens der ganzen Menschheit.
  • Die Schöpfung Gottes ist nicht einfach mit Natur (oder dem Natürlichen) gleichzusetzen. Gott ist den natürlichen Dimensionen nicht näher als den sozialen. Die Hoffnung auf die Neuschöpfung wirft Licht auf Defizite, Leiden und Bosheit in der Welt.
  • Viele ethische Probleme sind quantifizierbar; sie gehören in den Bereich des »Jetzt Dringlichen«, das im Licht des »Bleibend Wichtigen« gesehen werden muß.

Es können darum folgende, auf kombinierter Begründung ruhende Urteile ausgesagt werden:

Zur Reproduktionsmedizin:

  1. Extrakorporale Befruchtung (I.V.F.) kann als therapeutische Maßnahme zur Erfüllung des Kinderwunsches (in Alternative zur Adoption) nicht prinzipiell ethisch verworfen werden, zumal dann nicht, wenn innerhalb der Partnerschaft oder Ehe sexuelle Beziehungen möglich bleiben. Das »Widernatürliche« betrifft nur ein Glied in der Kette (in Analogie zur künstlichen Ernährung) und widerstreitet nicht der Menschenwürde und Unverfügbarkeit der menschlichen Persönlichkeit. Weil aber die Gefahren des Mißbrauchs, die hier nicht aufgezählt werden müssen, sowie die Ermöglichung des Experimentierens mit Embryonen ungemein groß sind, wird man praktisch die I.V.F. nur in Ausnahmen ethisch rechtfertigen wollen.
    Weil im Prozeß der I.V.F. die Patientinnen unweigerlich während langer Zeit auf dem Schleudersitz von Erwartungen, Enttäuschungen und Ängsten sind, ist psychotherapeutische bzw. seelsorgerliche Begleitung unbedingt erforderlich. Sie wird heute (außer in Belgien) offenbar nur selten angeboten. – Vgl. P. Petersen, Retortenbefruchtung und Verantwortung, anthropologische, ethische und medizinische Aspekte neuerer Fruchtbarkeitstechnologie, Stuttgart 1985.
  2. Heterologe Insemination (sowie heterologe I.V.F.) ist höchstens in Ausnahmefällen zu rechtfertigen; die Gründe gegen die prinzipielle Freigabe: Überwiegen der narzißtischen Selbsterfüllung, Unsymmetrie im Selbstwertgefühl der (Ehe-)Partner, Phantasien der Mutter über den Samenspender, Ungewißheit des Kindes über Herkunft (entgegen dem Menschenrecht auf diese Information).
    In den Kantonen Basel-Stadt, Zürich und St. Gallen wird z.Z. die Praxis der heterolog. Insemination durch Gesetz drastisch eingeschränkt bzw. verboten; die Samenbanken sollen aufgehoben werden. Ähnliche Information kommt aus anderen Staaten.
  3. Kryokonservierung von reproduktionsfähigem menschlichem Zellmaterial ist ethisch nicht zu rechtfertigen, außer im Zusammenhang mit der unter a) beschriebenen I.V.E (d. h. postmortale Befruchtung oder Reservierung für Zeugungen in erheblich ferner Zeit sind mit den Wer genannten Kriterien unvereinbar).
  4. Experimente mit Embryonen (nach Schwangerschaftsabbruch) zu Forschungszwecken können nur im Rahmen der therapeutischen Zielsetzung (Nürenberg Code) für Embryonen in »in vivo« gerechtfertigt werden. Produktion von Embryonen für Forschungszwecke ist in diese mögliche Rechtfertigung nicht eingeschlossen. Die bedingte Freigabe für Experimente bis zum Zeitpunkt der imaginären Nidation, vorgesehen im §2,2 des Entwurfs zum Embryonenschutzgesetz, ist wegen der quantifizierten Definition des Beginns menschlichen Lebens (zudem umstritten) problematisch und nicht empfehlenswert.
  5. Ersatzmutterschaft kann als Weg zur Erfüllung des Kinderwunsches vor den genannten ethischen Kriterien nicht bestehen. Wenn auch Sexualität in der I.V.F. technisch »teilbar« ist (nicht aber in ihrer personalen und eigentlichen Dimension), so ist Mutterschaft derart unteilbar, daß zwischen genetischer, austragender und gebärender Mutter von keinem ethischen Gesichtspunkt her legitim unterschieden werden könnte. Entsprechendes gilt für die Unteilbarkeit der Vaterschaft.

Zur Gentechnologie:

  1. Genomanalysen können nur freiwillig sein. Das heute öfter zitierte »Recht auf Nicht-Wissen« ist logisch nicht anders zu beurteilen als die Freiheit auf Nicht-Wissen in anderen diagnostischen Bereichen.
    Vgl. A. Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, Heidelberg usw. 1983; und die oben genannte Arbeit von Laufs, S. 8ff sowie die Appendices S. 39–49.
  2. Eingriffe in die Keimbahnzellen sind – nach der Abschätzung der Möglichkeiten, die unserem heutigen Wissensstand entsprechen – ethisch nicht zu rechtfertigen.

Schlußbemerkung

Die »Kundgebung« bzw. andere Entscheidungen der Synode sollten über die »Christian Medical Commission« des Ökumenischen Rates der Kirchen der Weltgesundheitsorganisation zugeleitet werden. Medizinethische Empfehlungen sowie Richtlinien für die Forschungsplanung müssen auf die Universalisierung hin angelegt und formuliert sein. Unerträglich ist die heute noch vorherrschende Situation, in der es sowohl Patienten als auch Forschern leicht möglich ist, den Begrenzungen in ihren Ländern durch Ausweichen in andere zu entgehen. Auf der anderen Seite leiden Menschen in ungezählten Ländern unter fehlender rechtlicher und ethischer Begrenzung medizinischer Praxis.

Stellvertretender Präses Dreßler: Vielen Dank, Herr Professor Ritschl, für Ihre Ausführungen. Der Beifall der Synode hat Ihnen gezeigt, daß wir die Reise – wie Sie gesagt haben – gern ertragen haben, die Sie mit uns gemacht haben. Ich danke Ihnen, daß Sie uns mit einer Reihe von Einsichten ausgerüstet haben, die Sie auf den Begriff gebracht haben und mit denen wir nun – »die konkreten Probleme, die durch die Gentechnologie und die Fortpflanzungsmedizin entstanden sind, angehen können« – auch das ein Zitat von Ihnen.

Verehrte Synodale! Sie haben dem Vorbereitungsmaterial entnommen, daß der Vorbereitungsausschuß Ihnen eine Kundgebung vorgeschlagen hat, wie das nach unserer Geschäftsordnung möglich ist. Der Entwurf dieser Kundgebung, den der Vorbereitungsausschuß vorbereitet hat, liegt Ihnen vor*). Unser Synodaler Dr. Sprondel war Vorsitzender des Vorbereitungsausschusses und wird vor der Mittagspause noch kurz in diesen Kundgebungsentwurf einführen. Bitte, Bruder Sprondel, Sie haben das Wort.

*) Kundgebungs-Entwurf siehe Abdruck Seite 491.

Synodaler Dr. Sprondel: Herr Präses! Ich habe die Ehre, die Vorlage des Ausschusses zur Vorbereitung des Schwerpunktthemas, betreffend Entwurf einer Kundgebung der Synode, in die Verhandlungen der Synodaltagung einzubringen. Da ich davon ausgehe, daß Sie alle diesen Entwurf bereits kennen und gelesen haben, kann ich mich dabei sehr kurzfassen.

Ich möchte mit einem sehr herzlichen Dank an die Mitglieder des Vorbereitungsausschusses beginnen, die in mehreren, ziemlich anstrengenden Sitzungen versucht haben, die nötige Vorarbeit für unsere Synodaltagung zu leisten. Die Ergebnisse der Arbeit beziehen sich ja nicht nur auf diesen Entwurf, sondern auf die gesamte Art, wie dieses Thema in der Synode behandelt werden kann.

Ebenfalls möchte ich dem Präsidium danken, daß es auf die Vorschläge der Vorbereitungskommission sehr bereitwillig eingegangen ist. Dadurch, daß zwei Präsidiumsmitglieder dem Vorbereitungsausschuß angehört haben, waren wir mit dem Präsidium immer in angenehmster Verbindung.

Die Gliederung unseres Entwurfes in drei mit römischen Ziffern versehene Kapitel ist, glaube ich, durchsichtig und bedarf keiner weiteren Begründung.

Im Teil I versuchen wir den Anlaß, weshalb die evangelische Kirche sich mit der angeschnittenen Frage überhaupt beschäftigt, plausibel darzulegen. Im Teil 11 machen wir den Versuch einer ausführlichen, ins Detail gehenden biblisch-theologischen Begründung für die Befassung mit diesem Thema, in deren Mitte der Begriff der Würde des Menschen steht. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß dieser Teil der Arbeit des Vorbereitungsausschusses uns besonders lange und intensiv beschäftigt hat. Ich habe deshalb die Bitte an die Synode, diesen Teil nicht als ein Stück – wie soll ich sagen – theologischer Lyrik zu behandeln, den man schnell überfliegt, um dann zu Sache zu kommen; sondern in diesem Teil II stecken die eigentlichen kirchlich-theologischen Fragen.

Im Teil III versuchen wir dann einige Folgerungen zu ziehen. Beim Lesen haben Sie sicher gemerkt, daß wir einen Weg zu finden versucht haben hindurch zwischen einer prohibitiven, sich abgrenzenden, auf Verbote und Untersagungen ausgehenden Art, mit dem Thema umzugehen auf der einen Seite und einer schrankenlosen Liberalität, begründet durch Wissenschaft, Freiheit, Demokratie oder was immer auf der anderen Seite – wie wir meinen, einen christlichen Weg. Daß dabei am Ende auch die Frage des Schwangerschaftsabbruches – ich verweise auf den Abschnitt III/4 – in die Diskussion mit hineingekommen ist und unserer Meinung nach auch in die Diskussion der Synode mit hineinkommen sollte, war eine Frucht unserer Überlegungen in diesem Ausschuß.

Stellvertretender Präses Dreßler: Vielen Dank, Bruder Sprondel, für diese Einführung. Wir haben damit die Vorbereitungen für die Behandlung unseres Schwerpunktthemas abgeschlossen.