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Militärseelsorge als Beitrag zur Erwachsenenbildung

Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Kassel 1974
(EKD-Bericht über die 2. Tagung der 5. Synode, S.172-176)

 

Synodale Schuchardt: Es ist mein Anliegen, kritische Anmerkungen zum Bericht des Militärbischofs zu machen aus pädagogischer Sicht - unabhängig davon, ob das nach den vom Militärbischof vorgebrachten Definitionen als "funktionale" oder "disfunktionale" Emanzipation verstanden wird -, aber ich sehe meine Aufgabe als Synodale und als Pädagogin darin, Bildungsaktivitäten der Kirche zu analysieren und zu hinterfragen mit dem Ziel, sie zu qualifizieren. Damit komme ich zu dem Bericht.

Als Mitglied des Vorbereitungsausschusses bin ich erstaunt oder mehr noch enttäuscht darüber, daß gezielte Fragestellungen an den Militärbischof, die in diesem Bericht behandelt werden sollten und ihm vorlagen, leider nicht oder nur unreichend beantwortet worden sind.

Der vorliegende Bericht ist weder ein Rechenschaftsbericht - um einen solchen hatten wir auch ausdrücklich nicht gebeten - noch die von uns erbetene Konzeption. Ich verstehe ihn als eine stark apologetische Information mit dem Anspruch einer Konzeption, ohne daß dieser Anspruch erfüllt worden ist. Vom Inhalt her muß ich zur Kritik feststellen, daß der Bericht nicht auf dem Stand von 1973 ist. Der Inhalt beruft sich auf die sogenannte "Information" des Militärbischofs von 1965, die damals ja nicht nur eine Information, sondern eine "Konzeption" war, damit sind die Atomdebatte und die Heidelberger Thesen bearbeitet, und die Sachfragen bleiben orientiert am Ergebnis von 1965 - mit einem einzigen Unterschied: Neu in diesem Bericht ist die These: "Militärseelsorge als Beitrag zur 'Erwachsenenbildung'!"

Als Pädagogin mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung muß ich hier ansetzen und erklären: diese von Ihnen, Herr Militärbischof, vertretene Definition von Erwachsenenbildung entspricht nicht dem gegenwärtigen Stand vom Selbstverständnis der Erwachsenenbildung in gültigen bildungspolitischen Dokumenten. Diese meine Aussage möchte ich in einigen Schwerpunkten belegen. Sie sagen in Ihrer Definition: "... Bildung soll ein Prozeß der Verwirklichung der dem Menschen in seinem Menschsein mitgegebenen Potentialitäten sein, und zwar individuell und gesellschaftlich"; (Seite 13). Das entspricht der Definition des Deutschen Ausschusses, der schon 1964 in seinem Bericht zur "Situation und Aufgabe der Erwachsenenbildung" folgende Definition vorlegte: "Gebildet im Sinne der Erwachsenenbildung ist jeder, der in der ständigen Bemühung lebt, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt, in der er lebt, zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln". Weitere Zitate erhärten Ihr Selbstverständnis von einem sogenannten "partnerschaftlich orientierten" Ansatz von Erwachsenenbildung, ich zitiere sinngemäß: "Militärseelsorge ist ,funktionale' Emanzipation. Im Gegensatz zur ,disfunktionalen' will die ,funktionale' Emanzipation im Rahmen des Systems verändernd wirken. Die ,funktionale' Emanzipation fühlt sich an die Verfassung gebunden" (Seite 16). Ich frage: Soll das bedeuten, daß die gegenwärtige Ordnung der Militärseelsorge gleichgesetzt wird mit der Verfassung? Kann die militärische Struktur hinterfragt werden aufgrund einer nur ,funktionalen' Emanzipation? Oder wird gar der Militärseelsorgevertrag mit dem Grundgesetz verwechselt?

Erhärtet wird dieser Verdacht eines nicht "konfliktorientierten" Ansatzes von Erwachsenenbildung durch das Zitat: "Politiker (!) sollen mit ihren politischen Aussagen helfen, die Wirklichkeit unseres Lebens im Sinne funktionaler Emanzipation auf Lösungsmöglichkeiten hin transparent zu machen, an denen wir mitwirken können." Soll das bedeuten, daß die ideologiekritische Frage, ob denn das Gemeinwohl des Staates für alle Gruppen der Gesellschaft - Arbeitgeber wie Arbeitnehmer - das gleiche bedeutet, als sog. "disfunktionale" Frage angeschlossen wäre?

Erhärtet wird dieser Verdacht noch durch die Analyse von Stundenbildern aus dem Lebenskundlichen Unterricht. Exemplarisch will ich in der Kürze der Zeit nur eines herausgreifen, und zwar das Unterrichtsbild "Staat und Kirche" von 1970, weil ich glaube, daß hier der Ansatzpunkt gewesen wäre, von Militärseelsorge zu sprechen. Ich muß dabei voraussetzen, daß eine pädagogische Analyse insofern nicht möglich war, weil diese "Stundenbilder" mehr oder weniger "Materialsammlungen" sind und keine didaktisch-methodische Analyse ermöglichen - aber das nur am Rande. Bei keinem Thema, wie dem von "Staat und Kirche" wäre die Frage nach Rolle und Struktur der Militärseelsorge so, notwendig gewesen. Der Verfasser erwähnt die Militärseelsorge jedoch nur am Rande, sieht sie unproblematisch und stellt keine Reflexion über das Verhältnis von Staat und Kirche für die Militärseelsorge an oder bedenkt gar mögliche Konsequenzen. Es werden von daher auch keine Konzeptionen erfragt. Soll das heißen, es darf keine Auseinandersetzung mit den Berufsaufgaben dieser Zielgruppe der Soldaten geben, auch keine Äußerungen zur Verteidigungskonzeption? Soll das bedeuten, daß Fragen, die um heutiges Verständnis von Frieden und Friedensforschung für die Bundeswehr relevant sind, verdrängt werden?

Zusammenfassend stelle ich fest, die These von Ihnen, Herr Lehming, "Militärseelsorge als Beitrag zur Erwachsenenbildung", bewegt sich auf dem Stand der Diskussion von 1965. Bildungspolitische Dokumente wie der Strukturplan des Bildungsrates von 1970 intendieren eine konsequente Entwicklung zu einer "konfliktorientierten emanzipatorischen" Erwachsenenbildung. Auch das Selbstverständnis als Christ kann eine "konfliktorientierte disfunktionale" Emanzipation als Ungehorsam gegen Staat und Obrigkeit im Konfliktfall fordern!

Ganz kurz noch einige Anmerkungen: Ein weiterer Widerspruch zur "Militärseelsorge als Erwachsenenbildung" wird deutlich, wenn diese als "Gruppenseelsorge" mit "Zielgruppenarbeit" gleichgestellt werden sollte. Die Zielgruppenarbeit ist eine punktuelle kurzfristige Maßnahme mit dem Ziel der Integration bestimmter Bevölkerungsschichten in die Gesellschaft. Die Militärseelsorge als "Gruppenseelsorge" aber ist eine kontinuierliche Arbeit, und muß gerade auf Integration, auf Bewährung im Sinne gesamtgesellschaftlichen Handelns verzichten. Daraus folgt: "Militärseelsorge als Erwachsenenbildung", muß die Isolierung des Militärs zu durchbrechen versuchen, muß Sozialisationsprozesse für Soldaten planen zur Auseinandersetzung mit anderen Gruppen der Gesellschaft.

Ein weiterer widersprüchlicher Ansatz: Erwachsenenbildung muß auch immer unter dem "pädagogischen Bezug" gesehen werden, also dem Verhältnis zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden. Ich meine, daß dieser pädagogische Bezug dadurch, daß der Militärseelsorger in einer Doppelrolle steht, einmal Bundesbeamter auf Zeit - also, Staatsdiener -, zum anderen aber beurlaubter Kirchenbeamter auf Lebenszeit - also Diener der Kirche -, ihn in eine zwangsläufige Schizophrenie spaltet, die im Konfliktfall das Vertrauen, die Basis des pädagogischen Bezugs zerstört und den Lernprozeß unmöglich machen könnte. Von daher wäre zu fragen, ob eine Neustrukturierung der Militärseelsorge, die die Militärseelsorge an die Gliedkirche bindet und den Militärseelsorger im zivilen Pfarrdienst tätig sein läßt - eine halbe Stelle für die Militärseelsorge, eine weitere halbe Stelle für die Gemeinde -, die Integration in die Gemeinde der Gliedkirche ermöglicht.

Abschließend noch Aussagen, wie Militärseelsorge von den Betroffenen im sog. "Fremdbild" gesehen wird. Ich habe das Wintersemester dazu benutzt, im Anschluß an Seminare an der Volkshochschule Hörer zu befragen, wie sie Militärseelsorge erfahren haben und wie sie zu ihr stehen. Es handelte sich um Bürger des Volkes, sog. Volkshochschulhörer. Es ist keine repräsentative Befragung, sondern Gespräche, wie sie im Anschluß an Seminare beim Bier am Stammtisch abends stattgefunden haben. Eindeutig läßt sich die vorherrschende Stimmung beschreiben: "Militärseelsorge, das ist ein Riesenapparat, der nur gemacht worden ist, weil es ein Verteidigungsministerium gibt, damit die Kirche gleich stark ist; damit Kirche dazu gehört; damit ein Machtapparat repräsentativ da ist. Und weil ich sehe, daß unsere Kirchensteuergelder so ausgegeben werden, bin ich ausgetreten." Ich könnte mehrere Fälle nachweisen. Zur Substanz, zur Sache, wurde wenig gesagt, und wenn, dann ging man beschreibend auf die reale Situation ein: "Was passiert da schon? Der Lebenskundliche Unterricht? Einmal im Monat kommen wir zusammen, das ist zehnmal im Jahr, und das zusammen mit hundert Leuten?!!!" - Wie sollen da Lernprozesse vor sich gehen? Eine methodische Analyse kann ich nicht geben, da ich nicht am Unterricht teilgenommen habe, aber von Großgruppenpädagogik zu sprechen erübrigt sich, und pädagogische Lernprozesse entfallen. Für das "Selbstbild" des Militärpfarrers, wie ich es aus Gesprächen mit Militärseelsorgern erfahren konnte, stand immer im Vordergrund: "Unsere Arbeit ist vorrangig ,Klimapflege'." Auch Klimapflege kann nicht Erwachsenenbildungsarbeit sein.

Zusammenfassendes Fazit: Als Pädagogin bestreite ich die These "Militärseelsorge - ein Beitrag zur Erwachsenenbildung". Ich habe versucht, das anhand der mir zugänglichen Materialien nachzuweisen. Bei einer möglichen Neustrukturierung hat Militärseelsorge eine Chance, wenn es gelänge, den Machtapparat, der aus "Systemzwang" (Parallele zum Verteidigungsministerium) erwachsen ist, abzubauen und sich zu konzentrieren auch auf den "Sachzwang", nämlich durch Militärseelsorge den einzelnen zu befähigen, in kritischer Solidarität - funktionale und disfunktionale Emanzipation in seiner Verantwortung als Christ wahrzunehmen, zu leisten. Eine Neustrukturierung als Wiedereingliederung der Militärseelsorge in die Gliedkirche könnte erreichen, daß der Militärseelsorger aus seiner Schizophrenie befreit wird, daß dadurch der pädagogische Bezug als Voraussetzung für Lernprozesse ungestört erhalten bleibt, daß entscheidend die Integration in die Gesellschaft geleistet werden kann. Dazu wäre erforderlich, daß Curricula entwickelt werden, die Unterrichtseinheiten statt Stundenbilder ermöglichen, und daß außerdem die Militärseelsorger eine zusätzliche permanente Weiterbildung erfahren. Dann hätte die Kirche eine Chance, schon jetzt einen Bildungsurlaub wahrzunehmen, um den politische Gruppen noch angespannt ringen müssen. Die Infragestellung "Militärseelsorge als Erwachsenenbildung" ist gestellt worden. Jetzt müßte der Dialog zwischen Synode und Militärseelsorge beginnen, und ich bin sicher, es wird ein kritischer Dialog sein. Ich danke Ihnen, daß Sie zugehört haben und hoffe, daß ich nicht nur -nach Formulierung des Militärbischofs - "einäugig" gesehen habe.