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Gesundheitssysteme: Der Mensch zählt

Wiener Europaforum der Gesundheitsminister

Krisenverarbeitung – Schlüssel im Gesundheitssystem (1)

Vorspann für Marginalie:

Menschen, die eine Krise verarbeiten müssen, brauchen mehr als Medikamente und eine technisch optimierte Rundumversorgung. Welche Schlüsselqualifikationen die Verarbeitung der Krise bei der Bewältigung von Krankheiten und anderen kritischen Lebensereignissen hat, erschließt ein langfristiges groß angelegtes Forschungsprojekt aus mehr als 2000 Lebensgeschichten der Weltliteratur aus einem Jahrhundert 2 der Erziehungswissenschafterin und Bundestagsabgeordneten Erika Schuchardt

 

Der Mensch zählt “ – ein anscheinend simpler Satz. Aber ist er wirklich eindeutig?

Natürlich zählt er. Vieles sogar, auch im Gesundheitswesen. Er oder sein Arzt zählen die Pulsschläge, die Leukozyten, den Blutdruck, und der alte PYTHAGORAS meinte, „ die Zahl ist das Maß aller Dinge .“ Wirklich? Schon GOETHE sprach vom Zählen als den „ ewig unzureichenden Annäherungen “, und OSWALD SPENGLER erklärte die Zahlen kurz und schmerzlos als „ Symbole des Vergänglichen .“ Aber glücklicherweise geht es uns heute gar nicht ums Zählen, sondern, um nochmals GOETHE zu zitieren: „ Gott muss ganz anderswo gesucht werden .“

Wir brauchen unser Thema nämlich nur anders zu betonen oder auch zu ergänzen, z.B. „ Der M e n s c h zählt “, nämlich: er hat Gewicht, er ist eine Wertigkeit, er ist wichtig. Doch auch das wäre unbefriedigend, auch diese Aussage wird von unseren Dichtern und Denkern relativiert: Recht respektlos kennzeichnet DOSTOJEWSKI den Menschen als den „ undankbaren Zweibeiner “, für CHRISTIAN MORGENSTERN ist der Mensch „ ein Exempel der beispiellosen Geduld der Natur “, für PASCAL „ ein Schilfrohr, das denkt “, für den Polen STANISLAW TEC „ ein Abfallprodukt der Liebe “ und „ die Dornenkrone der Schöpfung “, für PAUL ERNST „ das Tier, das sich selber belügt “ und für den Schriftsteller CARL LAUB sogar „ ein durch die Zensur gerutschter Affe .“ Das also kann es auch nicht sein, was uns heute beschäftigen soll. Nein, es gilt angemessener zu betonen: Der M e n s c h zählt . Er ist, das müssen wir immer wieder in Erinnerung rufen, das alles entscheidende Subjekt im Gesundheitssystem, er ist nicht nur ein Versuchsobjekt oder ein Anwendungsfall für neue Apparaturen und Pharmaka , er ist die Entscheidungsgröße, eben nicht nur eine Nummer, eine Krankenversicherungsnummer oder etwa die schon viel diskutierte Patienten-Nummer. Der satirische Gesellschaftskritiker KLAUS STAECK stellt die Situation 1983 überspitzt wie folgt dar:

 

1 Bild Nr. 77037: „Personalausweis“ – Computerrepublik Deutschland

 

Worum also soll es gehen? Als Kernsatz ganz bestimmt um die Mahnung, die nun auch Inhalt des Artikels 1 der EUROPÄISCHEN GRUNDRECHTS-CHARTA ist: „ Die Würde des Menschen ist unantastbar .“ Das ist allerdings für die Betreuung und Behandlung von Menschen noch sehr allgemein formuliert. Wir brauchen es konkreter. Verdeutlichen wir es zum Beispiel am Recht auf Kommunikation:

 

? DOROTHEE SÖLLE sagt in einem Aphorismus: „ Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ Sie bezieht sich damit auf den Beginn des Alten Testaments: „ Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“

? Auch für GOETHE ist die Gewalt des Wortes Thema, so im Faust I: in der ersten Begegnung mit Mephisto „Du wertest mir das Wort zu schwach.“

? Experimentell ließ FRIEDRICH DER GROSSE Säuglinge bei perfekter Pflege, aber ohne Ansprache, eben ‘wort-los‘, aufziehen in der Erwartung, die Ursprache zu finden; stattdessen fanden alle Kinder den Tod. Das heißt: optimale physiologische Versorgung ist nicht ausreichend, um ein Überleben zu ermöglichen.

? Dagegen überlebte z. B. der schon als Kind erblindete Resistence-Begründer JACQUES LUSSEYRAN trotz der unendlich widrigen Bedingungen im Konzentrationslager nach eigener Aussage nur, weil er die Kommunikation mit anderen Widerständlern suchte; programmatisch titelt Lusseyran seine Biographie: „ Das wiedergefundene Licht.“ – Analoges berichten FOLTEROPFER, dass sie die unmenschlichen Qualen nur ausgehalten haben, weil sie geistig in ihrem reichen Gedankenschatz aus der Folter mental erfolgreich ‚ausgewandert' waren.

 

Auf weniger spektakulärer Ebene findet sich die Heilkraft bei wohl allen Menschen, wenn man die Wirkung von Placebo-Medikamenten- und Therapien betrachtet (3) , aktuell dazu siehe GEO Oktober 2003

 

2 Bild: Der Placebo-Effekt: Wie der Geist den Körper heilt -

Wissenschaftler erforschen die Fähigkeit zur Selbstheilung

 

Wir brauchen also, wenn wir dem Menschen helfen, zu Selbstheilungskräften verhelfen wollen, die persönliche Ansprache, und zwar die aktive Ansprache , gleichwie das aktive Zuhören ; ein Gesundheitssystem lebendiger wechselseitiger Interaktion. Auch da weist wiederum GOETHE dem Arzt, dem Begleiter den richtigen Weg, wenn er sagt: „ Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; w i r müssen z u i h n e n gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen geht. “ (Sperrung von der Autorin) Wie wahr und modern!

 

Das ungestillte Bedürfnis nach individueller Ansprache wie nach aktivem Zuhören und persönlicher Zuwendung, Wahrnehmung der Einzigartigkeit, erklärt sicherlich die große Popularität der Homöopathie, der Anthroposophie der fernöstlichen Medizin (Traditionelle Chinesische Medizin, TCM, Ayuveda, ja sogar Esoterik) als alternative Heilverfahren. Die wohltuende Wundermittel Zuwendung, Trost erfahren eine ungeahnte Renaissance in der Begleitung sterbender Menschen in Form der modernen Hospizbewegung.

Das alles gilt gerade auch für das Gesundheitswesen. Oft kommt es darauf an hineinzuhorchen – sprichwörtlich „dem Anderen sein Ohr leihen“ statt mit ihm umzugehen, nicht die – oft unendlich kostspieligen – Apparaturen einzuschalten, nach versteckten Krankheiten zu suchen oder sie gar zu erfinden und damit auf das Erspüren der eigentlichen Ursachen zu verzichten.

Hochaktuell reagieren seismographisch die Medien, titelt die Zeitschrift DER SPIEGEL im August 2003 angesichts des zu kompensierenden Defizits:

 

3 Bild: Erfundene Krankheiten – wie die Medizinindustrie Gesunde für krank verkauft

4 Bild: Die Abschaffung der Gesundheit im Visier der Krankheits-Erfinder

5 Bild: Das Sissi-Syndrom

 

NATIONAL GEOGRAPHIC titelt im November 2003

I Bild: Die Heilkunst der Pharaonen und was wir davon lernen können.

 

So dokumentiert sich nicht zuletzt auch das gewandelte öffentliche Bewusstsein in den Medien. Daraus folgt: Wege aus der Krankheit, Wege aus der Krise bedürfen n e b e n der klassisch gängigen medizinischen Behandlung anderer Wege, anderer Erkenntnisse, nämlich der Wiederentdeckung der Einheit von Heilung und Heil .

 

Die Flucht aus der Krise ist keine Lösung. So können wir den Teufelskreis nicht durchbrechen.

 

6 Bild: Buchtitel Krisen-Management und Integration mit DVD, 8. Aufl. 2003

7 Bild: DVD Titel Krisen-Management und Integration 2003

8 Bild: Buchtitel Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen, 12. Aufl. 2004

 

In meiner seit 1970 großangelegten Forschungsarbeit 4 , Gesetzmäßigkeiten der Krisen-Verarbeitung aus den Biographien von Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten zu erschließen, konnte ich aus der Analyse von über 2000 Lebensgeschichten aus aller Welt, aus dem Zeitraum eines ganzen Jahrhunderts, ein Krisenverarbeitungsmodell in acht Spiralphasen herausarbeiten.

 

9 Bild: Lernprozess Krisen-Verarbeitung in acht Spiralphasen

 

Im Durchlaufen dieser Schritte / „Spiralphasen“ wandelt sich sowohl der Betroffene selbst als auch seine ihn begleitenden Bezugspersonen, die in gegenläufiger Richtung die acht Spiralphasen durch drei Stadien – Kopf, Herz, Hand – durchlaufen. Helfer können die Begleiter nur dann sein, wenn sie sich auf die jeweilige Phase des von der Krise – schon - betroffenen Menschen einlassen, andernfalls kommt es zu Interaktionsstörungen, daraus resultieren Sprachlosigkeit, Verständnislosigkeit, Hilflosigkeit. Gehen wir gemeinsam durch diese acht Spiralphasen hindurch.

Vorab soll jedoch abrissartig der Kontext der Forschungsarbeit skizziert werden:

 

10 Bild: Lebenswelten der Biographen

 

Die Lebensgeschichten der Biographen wurden weltweit aus einem Jahrhundert erhoben. Auswahlkriterium war neben dem Krisen-Ereignis u. a. die Veröffentlichung in deutscher Sprache, so dass die Forschungs-Ergebnisse für jedermann überprüfbar sind: 1334 Lebensgeschichten in Deutsch, 700 als Übersetzungen. International einschlägig durch Filme bekannt: Mexiko – FRIEDA CARLO, die Malerin, USA – CHRISTOPHER REEVE, „Superman“, Großbritannien – CHRISTIE BROWN, „Mein linker Fuß“, Südamerika – ISABELLE ALLENDE, „Das Geisterhaus“, Japan – KENZABURE OHE, Literaturpreisträger, Russland – OSTROWSKI, Schriftsteller.

 

11 Bild: Erscheinungsjahr, Anzahl und Themenwandel der Biographien zur Krisenverarbeitung

 

Den Wandel der Themen-Schwerpunkte dokumentiert die Jahrhundertstatistik: bis 1970 überwiegend das Krisen-Ereignis: Behinderung, bis 1980 vermehrt das Krisen-Ereignis: Langfristige Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, AIDS, bis 1990 vermehrt die Krise: Kritische Lebensereignisse, insbesondere Trennung, Flucht, Aufarbeitung des Holocaust, bis 2000 überwiegend die Krise: Kritische Lebensereignisse wie sexueller Missbrauch und Coming-Out-Literatur.

 

12 Bild: Erzählperspektiven und Krisen-Ereignisse in der Bibliographie zur Bibliotherapie

 

Die angegliederte Bibliographie der über 2000 Lebensgeschichten gliedert sich zweifach, einerseits nach der Erzählperspektive der Biographen: wie – schon - betroffene Menschen, Eltern, Partner, Fachleute sowie Fachleute gemeinsam mit Betroffenen, andererseits ist sie auch nach den Krisen-Ereignissen gegliedert, und zwar nach insgesamt 17 Kategorien von K1 bis K17.

 

Vor diesem Hintergrund möchte ich mit Ihnen im Folgenden durch die acht Spiralphasen der Krisenverarbeitung hindurchgehen: Stellen Sie sich für den Bruchteil einer Sekunde vor, Sie müssten einem Patienten eröffnen - oder Ihnen selbst würde es eröffnet - dass er Krebs hat, dass er ein beeinträchtigtes Kind zur Welt bringt oder nach einem Verkehrsunfall querschnittsgelähmt ist.

 

13 Bild: Lebens-BRUCH-Krisen

 

Die Mitteilung führt zu einem Riss in der Lebenskontinuität. Die Hiobs-Botschaft schlägt wie ein „Blitz aus heiterem Himmel“ auf den plötzlich Betroffenen ein: „ Mich hat der Schlag getroffen! “ Bei allen diesen Krisen-Ereignissen handelt es sich um un vorhersehbare - eben blitzartig einschlagende – Lebens–BRUCH–Krisen, die in ihrer Wirkung ungleich dramatischer, ja existenzieller sind als die sogenannten Lebens-LAUF-Krisen.

 

14 Bild: Lebens-LAUF-krisen

Lebens-LAUF-Krisen, die vorhersehbar an Schaltstellen der Biographie - Geburt, Schule, Ausbildung, Partnerschaft, Altern, Tod – unseren Lebenslauf begleiten

 

Wie reagiert nun der unmittelbar betroffene Mensch?

15 Bild: Spiralphase 1-8 im Lernprozess Krisenverarbeitung kontinuierlich aufbauend

 

Der von der Krise betroffene Mensch signalisiert durch seinen Aufschrei „W as ist eigentlich los“ seine Desorientierung in der Spiralphase 1 „Ungewissheit.“ Dem gesprächsanalytisch Geschulten offenbart sich in der Spontanaussage ‚eigentlich', dass ‚uneigentlich' das Wissen bereits latent vorhanden, aber noch erfolgreich verdrängt wird. Bis in die Spiralphase 2 „Gewissheit“ : „J a..., aber das kann doch gar nicht sein“ sagt der Kopf, „ Ja“ , gebietet das Herz „ Nein“ , weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

Zu diesem Zeitpunkt wird ein ausgearbeiteter Therapieplan, werden konkrete Lösungsvorschläge, werden Versicherungspolicen, die Not des schon Betroffenen nicht lindern, sie werden ihn nicht einmal erreichen. Der Krisen-Begleitende muss auf eine harte Zurückweisung gefasst sein, die auch nicht einfach zu verarbeiten ist. Er flüchtet sich darum nicht selten in die vertröstende Verklärung , man solle doch Geduld und Zeit haben, es würde schon alles wieder gut, „ Das wird schon wieder, nur Kopf hoch “ oder aber es gelingt ihm, sich mit dem schon betroffenen Patienten gemeinsam der Krise zu stellen und die mühselig sisyphusartige Wahrheits-Entdeckung auszuhalten. Hier wird schon deutlich, dass nicht allein der Arzt die schwere Aufgabe erfüllen kann, sondern weitere Personen im Umfeld des Patienten gebraucht und einbezogen werden müssen. Wenn diese Begleitenden fehlen, kommt es irgendwann zur notwendigen brutalen Wahrheits-Aufklärung , weil die Chance zur dosierten Wahrheits-Vermittlung vertan wurde. Im Hinblick auf diese Reaktion ist vielleicht die beklagte zunehmende Brutalisierung bereits Ausdruck und Folge der wachsenden Vereinsamung des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft.

 

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das ‚KOPF'-gesteuerte kognitive Eingangs-Stadium früher oder später – abhängig von der Begleitung – in das emotional dominierte ‚HERZ'-gesteuerte Durchgangs-Stadium vordringt. Vulkanartig bricht es aus dem Betroffenen heraus „ Warum gerade ich “, er befindet sich in der Spiralphase 3 „Aggression.“ Zu dem Gegenstand der Aggression wird alles, was sich ihm anbietet – der Begleitende, der Helfer, weil der eigentliche Gegenstand der Aggression, die Krise, ja eben nicht angreifbar ist. Meine Forschungsarbeit ermittelte neun unterschiedliche Deutungsmuster der Aggression. Entscheidend ist das kaum bekannte und beachtete Phänomen: Aggression ist Liebesbeweis! In Unwissenheit dieses Tatbestandes missinterpretiert der Begleitende diese befremdliche Art der unbedingten Zuwendung, und erschlägt sie missverstehend mit Gegen-Aggression. So gibt es am Ende keinen Gewinner, nur zwei Verlierer: Arzt-Wechsel, Therapie-Abbruch, Therapie-Verweigerung, Psychosomatische Folgen, insgesamt non-compliance. Nicht selten endet sie im Suizid. Zwei Drittel der über 2000 Biographen berichten darüber und keiner der Biographen verschweigt den latenten Todeswunsch.

 

II Bild: Heiligenstädter Testament Ludwig van Beethovens

 

Das vielen unter Ihnen bekannte Heiligenstädter Testament von LUDWIG VAN BEETHOVEN, im Alter von 28 Jahren verfasst, ist Ausdruck jenes Todeswunsches in Folge seiner zunehmenden Ertaubung: „Wie ein Verbannter muss ich leben, ich bin kein Menschenfeind, kein Misantrop, ich bin ein Ausgesetzter, Verzweifelter, ein Verbannter.“ Gelingt es den Begleitenden tatsächlich, in der Aggression den Liebesbeweis unbedingten Vertrauens seitens des –schon - Betroffenen zu entdecken, dann finden sie zur Kraft, die Aggression auszuhalten, ihnen aktiv zuzuhören im GOETHISCHEN Sinne: ihnen zur Geburt der Sprache zu verhelfen „ ...und wenn ein Mensch in seiner Qual erstickt, gab ihm ein Gott zu sagen, was er leide“ (TASSO). Auch hier ist mit ‚Medikation auf Rezept' kaum geholfen, und auch der Logopäde ist nicht der richtige Geburtshelfer für die Worte. Inwieweit professionelle Betreuung Freundschaft, Liebe, Herzlichkeit aus persönlicher Zuneigung heraus ersetzen kann, ist schwer zu beantworten, denn ein Psychologe wird seine Zeit immer wirtschaftlicher Anforderung gemäß dosieren müssen.

 

Parallel dazu beginnt der Betroffene mit allem zu verhandeln, was Rettung versprechen könnte. Je nach soziokultureller Prägung kann das Flucht in die Religion, Zuflucht zu Wunderheilern, Wallfahrten, Votivgaben, aber auch Flucht in die moderne Warenhauswelt, in die Schulmedizin sowie Volksmedizin und Esoterik weltweit sein. Geld spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle, man verhandelt ‚um jeden Preis', mit Wundern und Ärzten in der 4. Spiralphase „Verhandlung“. Ergreifende Pressekampagnen, in denen verzweifelte Eltern Spendermark oder Organe suchen, illustrieren, wieweit die Einbindung der Begleitenden geht. Haben sie gelernt, sich selbst eigenen Krisen zu stellen, finden sie die Kraft ‚Wahrhaftigkeit' durchzuhalten. Ihnen obliegt die verantwortungsvolle schwierige Aufgabe, dem Betroffenen im Dialog zur eigenen Wahrheits-Entdeckung zu verhelfen, ihn von irrationalen Hoffnungen zu befreien und daraus resultierende Gefahren zu verhindern (Ökonomischer Bankrott, Abwendung von wirklichen Freunden, Vereinsamung) sowie das Verpassen von eigentlichen Chancen zu verhindern, nämlich zum rechtzeitigen Wachsen der Selbstheilungskräfte, zu ‚Heil' und ‚Heilung' zu gelangen.

 

Es kann nicht ausbleiben, dass am Ende dieses Durchgangs-Stadiums der Betroffene in die 5. Spiralphase der „Depression“ , der Trauerarbeit, eintritt, die mit der Erkenntnis über den erlittenen Verlust notwendig erforderlich ist. „Wozu, alles ist sinnlos“ , schreit es aus dem Betroffenen heraus. Therapien werden abgebrochen, Betroffene ziehen sich in sich selbst zurück, die Suggestionskraft des Therapeuten, die für eine erfolgreiche Heilung nicht unterschätzt werden darf, erlischt möglicherweise weitgehend. Der Prozess der Selbstheilung ist schwer gefährdet. Und was nun? (Wenn man könnte, sollte hier mindestens eine N3, wenn nicht gar eine Klinikpackung des Kombi-Präparates „Zuneigung, Liebe, Nähe“ verabreicht werden. „Vorsicht Nebenwirkungen:“ Suchtgefahr beim Patienten, Entwicklung vom Helfersyndrom beim Verabreicher.)

Welcher Weg aus der Krise ist möglich? Der Betroffene ist am Boden des Brunnen-Schachtes angekommen, jetzt kann es nur noch aufwärts gehen. Der Betroffene kann sich – er hat Boden unter den Füßen – wieder auf die Füße stellen, den Weg nach oben suchen und beschreiten – ob beschwerlich oder leicht. Zu diesem Zeitpunkt ist der Betroffene bereit und fähig geworden, optimalen Nutzen aus ärztlichen Bemühungen und therapeutischen Maßnahmen zu ziehen. Er betrauert jetzt nicht länger, was schon verloren ist, sondern er erkennt, was noch da ist und was er damit tun kann . Das ist der Beginn des Ziel-Stadiums. Kopf, Herz und Hand vereinen sich wieder in aktional selbst-gesteuerter Dimension: „Ich erkenne erst jetzt“ ist Ausdruck der 6. Spiralphase „Annahme“ ist die Bereitschaft, den Aufstieg aus der Verabreitung der Krise fortzusetzen. Der Betroffene nimmt bewusst wahr, dass er noch da ist, dass er nicht allein gelassen wurde, und er erkennt, dass er doch noch Möglichkeiten hat.

 

III Bild: Ludwig van Beethoven: 9. Sinfonie - UNESCO Weltkulturerbeliste 2003

 

So formuliert der 28-jährige BEETHOVEN: „Ich endete mein Leben, gäbe es da nicht die Kunst. Sie hielt mich am Leben.“ Suchend sich sehnend schrieb er 28 Jahre später die weltberühmte 9. Sinfonie - 2003 in die UNESCO-Weltkulturerbeliste erhoben – erlebt er darin seinen schöpferischen Sprung aus der Krise.

 

Je aktiver der Betroffene wird, desto mehr muss der Begleitende seine wachsende Autonomie anerkennen und von der Helferrolle loslassen, ihm als gleichberechtigten Partner begegnen. „Aktivität“ ist das Merkmal der 7. Spiralphase Ich tue das. “ Hier liegt die Geburtsstunde aller Selbsthilfeorganisationen von lokaler über regionaler zu nationaler und internationaler Organisation und Institution. Die Gründung dieser Organisation ist Ausdruck der 7. Spiralphase „ Aktivität “, ihre Aufgabe aber ist Solidarität – die 8. Spiralphase Wir handeln gemeinsam “ - und sie ist damit zukunftsorientiert. Das Lernziel Solidarität ist sowohl von –schon - betroffenen wie von - noch nicht - betroffenen Menschen nur schwer erreichbar und noch schwerer langfristig aufrechtzuerhalten.

 

Solidarität war in der Vergangenheit Aufgabe der Familie als Großfamilie – Klan, Sippe – und der Nachbarschaft. Krisen wurden solidarisch in diesen Gruppen verarbeitet. Gesundheitskrisen, Alterspflege, Armenpflege war zwar auch kommunale Aufgabe, der institutionalisierte Heimgedanke entwickelte sich aber erst im 19. Jahrhundert als weitverbreitetes Modell. Die Arbeit hier war nach wie vor getragen von einem Engagement, das nicht durch monitäre Interessen geprägt war, sondern rein karitativ. Die heutige Zeit, mit dem Wegfall der Großfamilie, dem Zerbrechen der Kleinfamilie, der geforderten hohen Mobilität und damit wenig festgefügter Nachbarschaftstradition, führt dazu, dass Behandlung, Betreuung und Pflege nahezu ausschließlich von kommerziellen Institutionen durchgeführt wird. Hier wird Zeit nach Minuten gemessen, wie die endlosen Diskussionen in der häuslichen Pflege bei der Abrechung der Leistungen mit der Pflegeversicherung eklatant deutlich machen.

 

Ein Umdenken ist erforderlich, unsere Taktik, uns Krisen anderer eben nicht auszusetzen, sondern uns dieser Aufgabe allein durch Versicherungsleistungen zu entledigen, stößt an die Grenzen der kommerziellen Machbarkeit.

Wir werden uns alle auch wieder mit unserer eigenen Kraft und Zeit engagieren müssen, und das nicht allein aus kommerziellen Gründen, sondern um unser selbst willen, weil – wie ich an 2000 Lebensgeschichten aus aller Welt nachweisen konnte – „Krisen – auch ein verborgener Reichtum“ sind. Darauf sind wir aber weniger denn je vorbereitet, da die Umgangsformen der verschiedenen Gesellschaftsgruppen untereinander verloren gegangen zu sein scheinen oder unzureichend entwickelt wurden – z.B. Ältere, Jüngere; Kranke, Gesunde; Alleinstehende, Familien; Lerngewohnte, Lernungewohnte; Ausländer, Einheimische. Außerdem wird die Verarbeitung von Krisen in Begleitung von Kindheit an wenig geübt, da zum einen die Kinder immer stärker behütet werden und zum anderen die Zahl der Bezugspersonen für die Kinder immer mehr abgenommen hat. Es gilt, das Miteinander-Leben-Lernen, die Krise als Chance – im chinesischen vereint in einem Zeichen – neu zu entdecken gemäß der schon genannten Komplementär-These : Krisen – auch ein verborgener Reichtum.

 

 

16 Bild: Ludwig van Beethoven: Komplementär-These: Krise – auch ein verborgener Reichtum

 

Es war, ist und bleibt mir ein Anliegen, die Bedeutung und die Befähigung zur wechselseitigen Krisenverarbeitung deutlich zu machen, hierin sehe ich die unabweisbare Notwendigkeit, diese Aufgabe im Bildungssystem, beginnend in Kindergarten und Schule und entsprechend angepasst in der jeweiligen beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung, fest zu verankern, als Integral des Gesamtbildungssystems. 5

 

IV. Bild: Krisen-Management-Interaktionsmodell zum Lernprozess Krisenverarbeitung in acht Spiralphasen

 

Dabei wird von jedem Einzelnen nicht gefordert, dass er soweit geht wie in der Beziehung HÖLDERLINS zum Tischlermeister ZIMMER, der während seiner Tischlerarbeiten im Tübinger Authenriethschen Stift auf den angeblich psychisch kranken HÖLDERLIN aufmerksam wurde und das Direktorium darum ersuchte „...diesen wunderbaren Geist nicht länger im Stift zu verwahren, sondern ihm Gemeinschaft seines Tischlerhauses – im Hölderlinturm – in Gestalt eines Lebens mit und in seiner Familie, wie jedem anderen auch zu gewähren“ gemäß den kleinstädtischen Konventionen, das heißt, ihn zu integrieren.

 

Worauf es heute mehr denn je ankommt, ist zu erkennen, nicht an Krisen vorbeizuschauen, nicht vor ihnen zu fliehen, sondern, soweit es unsere Kraft erlaubt, sich Krisen zu stellen, das heißt sich selbst und andere zu begleiten, damit eine neue Kultur wechselseitiger Bereitschaft zum interaktiven Helfen, zum Begleiten, zum Krisen-Management gelingt: M. E. ein maßgeblicher Ansatz zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme sowohl im Gesundheitssystem als auch solche der Weltgesellschaft. Das etht im Kontext der von den Vereinten Nationen ausgerufenen UN-Weltdekade „Erziehung für nachhaltige Entwicklung“ 2005-2014.

 

Abschließend lade ich Sie ein, das ‚Symbol der Seelenreise' , den Spiralweg, den ich in meinem Vortrag als ‚Schlüsselqualifikation' im Krisen-Management herausarbeitete noch einmal aus einer anderen Perspektive in den Blick zu nehmen, nämlich in Kunst- und Kulturgeschichte:

 

 

17 ? Die Komplementär-Spirale zum Himmel im World Trade Center, Daniel Libeskind, New York 2003

18 ? Die Komplementär-Spirale in der Reichstagskuppel des Deutschen Bundestages, Norman Foster, Berlin 1999

19 ? Spirale-Schwelle zum Megalith-Tempel, Malta, Griechenland um 2400 v. Chr.

20 ? Die Spiral-Schlange als drittes Auge des Pharaos, Ausdruck fließender Energie, Ägypten, um 2500 v. Chr.

21 ? Der Spiral-Aufbau zum Minarett der Moschee von Samarra, Irak 9. Jh.

22 ? Die Komplementär-Spirale der DNA, Bauplan des Lebens für Pflanze, Tier, Mensch, 21. Jh.

23 ? Die Spirale als kristalline Form im Schlüsselprozess der Oxydose, die das Licht der Sonne zum Leben bringt, 21. Jh.

 

Ich wünsche Ihnen, allen uns Anvertrauten und mir, dass es uns immer besser gelingt, Wege aus der Krise zu finden, indem wir uns vorbehaltlos und vertrauensvoll der Krise stellen – und ihren verborgenen Reichtum wieder neu entdecken.

 

Ich danke Ihnen.

 

 

(1)  Vortrag im Rahmen der Universität Hannover „Gesundheit mit System“, veröffentlicht im Unimagazin Hannover, Jg. 2004, Ausgabe ¾, S. 18ff (gekürzte Fassung)

(2) Schuchardt, Erika: Krisen-Management und Integration. Doppel-Band mit DVD.
Band 1: Biographische Erfahrung und wissenschaftliche Theorie.
Band 2: Weiterbildung als Krisenverarbeitung.
DVD: • Jahrhundertbibliographie u. • 18 Film-Dokumentationen
,Best Practice International'.
Reihe ,Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung' - Bestseller
8. überarb. und erw. Auflage Bielefeld 2003, Best.-Nr. 14/1088,

(3) Aktuell: GEO Oktober 2003: Der Placebo-Effekt, Wie der Geist den Körper heilt, Nation Geographic Nov 2003: Die Heilkunst der Pharaonen und was wir daraus lernen können

(4) Schuchardt, Erika: Soziale Integration Behinderter, Doppelband, Westermann Verlage 1979 und Schuchardt, Erika: Warum gerade ich...? - Leben lernen in Krisen - Fazit aus Lebensgeschichten eines Jahrhunderts.
Mit Bibliographie der über 2000 Lebensgeschichten von 1900 bis zur Gegenwart: alphabetisch - gegliedert - annotiert. Göttingen, Vandenhoeck&Ruprecht - 12., überarb. und erw. Aufl. 2006, 361 S.
Mit 13 Abbildungen und 11 Graphiken, 12,90 Euro. Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis.

(5) Forschungsprojekt: Schuchardt, Erika: Handbuch Kinder-Krisen-Management – „Stark!“ – Kinder erzählen ihre Kummergeschichten

 


V 91. Vortrag / Aufsatz / Beitrag - Erika Schuchardt:

 


Gesundheitssysteme: Der Mensch zählt.
Wiener Gesundheitsminister-Konferenz 2004

In: Kongressbericht,
Hrsg.Österreichisches Ministerium für Gesundheit und Frauen, Wien 2004.

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