Christ-Sein

Neujahrsandacht 1996Icon Download PDF 36

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Neujahrs-Andacht zur Tageslosung der Herrnhuter Brudergemeinde

"... ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück

; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab
trösten mich" 23. Psalm, V.4

Liebe Koleginnen, liebe Kollegen,

ich möchte das neue Jahr gemeinsam mit Ihnen dankend beginnen:

Kanon: "Danket, danket dem Herrn"

Die Losung der Herrnhuter Brüdergemeinde für den heutigen Tag - ausgelost für uns jetzt im 266. Jahr, also seit 1736 - ist der 23. Psalm, V.4:

"... und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich"

Das ist die Aussage eines Menschen, der nicht eine intelligente religiöse Worthülse in den Raum stellt, sondern der aus persönlichem Erleben aus der Retrospektive seine Erfahrungen auf den Punkt bringt:

"Zukunft heißt für ihn - den Psalmisten David - Zuversicht!"

Befragen wir Menschen unseres Umfeldes, sind sie geneigt, oft allzu leichtfertig zu äußern:

"Natürlich habe ich Zuversicht!"

Ich wage es einmal, mich laut zu fragen, sagen diese Menschen es nur so hin oder haben sie tatsächlich eine Erfahrung damit gemacht? Was ich damit meine, möchte ich Ihnen anhand einer der alten Chassidischen Erzählungen Martin Bubers über "Das Erlernte" erläutern:

"Als Levi Jizchak von seiner ersten Fahrt zu Rabbi Schmelke heimkehrte,
herrschte ihn sein Schwiegervater an:
'Nun, was hast du schon bei ihm gelernt?!'
'Ich habe gelernt,' antwortete Levi Jizchak,
'daß es einen Schöpfer der Welt gibt.'
Der Alte rief den Diener herbei und fragte den:
'Ist es dir bekannt, daß es einen Schöpfer der Welt gibt?'
'Ja,' sagte der Diener.
'Freilich,' rief Levi Jizchak,
'alle sagen es, aber e r l e r n e n sie es auch?"

Es ist also etwas grundsätzlich anderes, ob eine Sache intellektuell bekannt ist oder ob sie erlebt, erlitten, durchlebt und durchlitten, also anerkannt und so zum Bestandteil eines verwandelten Lebens geworden ist.

In unserer Herrnhuter Losung zum heutigen ersten Morgengebet in diesem Jahr singt der Psalmist David zu seiner Harfe von seiner wunderbaren Gotteserfahrung:

"Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir ... !"

Wer von uns hätte nicht Erfahrungen im finsteren Tal in seinem persönlichen, in seinem beruflichen und auch in seinem Glaubensleben gemacht? >vgl. dazu Schuchardt, Erika: "Warum gerade ich...?"< *

Manfred Hausmann teilt solche Erfahrungen des finsteren Tals mit uns in seinem Gedicht "Weg ins Dunkel":

"Wer des Lichts begehrt, muß ins Dunkel gehen,
was das Grauen mehrt,
läßt das Heil erstehen,
wo kein Sinn mehr ist, waltet erst ein Sinn,
wo kein Weg mehr ist, ist des Wegs Beginn!"

Erlauben Sie, daß ich, stellvertretend für manche, von solchen Erfahrungen im finsteren Tal zu Ihnen spreche, um gerade darin das Walten Gottes aus der persönlichen Erfahrung des mir Wider­fahrenen "Du bist bei mir!" für uns alle aufleuchten zu lassen und die Frohe Botschaft leibhaftig mit Ihnen zu teilen:

Da war - soweit ich zurückdenken kann - meine erste Erfahrung, die eines Kindes mitten im 2. Welt- krieg: Bombenangriffe, Bunker, Bombennächte, blitzartiges Aufbrechen in die Luftschutzkel­ler ... Seltsam, wir vier Kinder waren ohne Angst. Denn vor jedem Kelleraufbruch beteten meine Eltern - später meine Mutter allein - mit uns die Davidworte des 23.Psalms:

'Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln ...
und ob ich schon wanderte im finstern Tal ...
Du bist bei mir!';

dabei legten wir uns die Puppen in den Arm, faßten uns bei den Händen und stiegen gemeinsam - meine Mutter hochschwanger - zuversichtlich singend beim raren Schein der Ta­schenlampe in den dunklen Luftschutzkeller hinab. Noch heute höre ich die Worte meiner Mutter

'... und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück,
denn Du bist bei mir!',

spüre feste Zuversicht und bin geborgen im Vertrauen wider alle Vernunft.

Der ersten Erfahrung folgten viele weitere an Schaltstellen der eigenen Biographie.
Heute aus der Retrospektive möchte ich mit Jaques Laysseran sagen:

"Mein Leben war ein Staffellauf von Vertrauen zu Vertrauen
...
Ich lief zwischen Gefahren und Schrecknissen hindurch wie Licht durch einen Spiegel dringt. Das ist es, was ich als das Glück meiner Kindheit bezeichne, diese magische (geheimnisvolle, [Anm. d. Verf.]) Rüstung, die - ist sie uns einmal umgelegt - Schutz gewährt für das ganze Leben.
...
Meine Eltern - das war der Himmel!
...
Ja, hinter meinen Eltern stand jemand, und Papa und Mama waren nur beauftragt, mir dieses Geschenk aus erster Hand weiterzugeben. Es war der Anfang meines Glau­bens und erklärt meiner Ansicht nach, warum ich niemals einen metaphysischen Zweifel gekannt habe. Dieses Bekenntnis mag etwas überraschend sein, doch ich halte es für wichtig, da sich aus ihm so viele Dinge erklären lassen."

Schließlich möchte ich eine letzte Erfahrung mit Ihnen teilen:

Es geschah in jenen unentrinnbar dunklen, nie endenden Todesnächten: Christian, erst sechs Jahre alt, der jüngste der drei Kinder meiner Schwester, schreckte bitterlich weinend jede Nacht - nach dem monatelangen Sterben seiner Mutter - auf mit den Worten: "Ea"- damit meinte er mich - "ich verbrenne! Wenn ich schlafe, kommt das Feuer näher und immer näher und verbrennt mich; ich kann ohne Mama nicht leben, ich verbrenne!"

Wieder und wieder erzählte ich ihm, was jeder zu buchstabieren versucht hätte. Aber was sind Worte für ein verwaistes sechsjähriges Kind, dem buchstäblich das Vertrauen mit dem plötzlichen Verlust der Mutter zu entgleiten drohte?

Ich kaufte eine Hirtenpuppe, verlängerte den Hirtenmantel, so daß das Hirtencape den kleinen Jungen ganz umhüllte. Nach dem gemeinsamen Abendgebet deckte ich Christian mit dem Hirtenmantel zu und sprach - jetzt als erwachsene Frau - das Gebet des Psalmisten Davids, das meine Eltern uns Kindern im Zweiten Weltkrieg als Zuversichtssignal gegeben hatten; wir wollen es jetzt gemeinsam beten:

Psalm 23:

"Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zu frischem Wasser.
Er erquicket meine Seele,
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürcht' ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde
du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar."

Mein Neffe Christian sagte am nächsten Morgen:

"Ea, der Hirte hat mich beschützt, das Feuer ist nur bis zu den Fußspitzen gekommen, genau bis dahin, wo mein Hirte mich zugedeckt hat:" Und dann seine Frage: "Und Ea, beschützt er so auch Mama?"

Ich möchte mit Ihnen die Worte Bonhoeffers aus der Tegeler Gefängniszelle beten. Bonhoeffer hat sie im finsteren Tal seines Lebens, den Tod vor Augen, mit Gottes Hilfe buchstabieren, beten und schreiben dürfen:

"Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag,
Gott ist mit uns, am Abend und am Morgen,
und ganz gewiß an jedem neuen Tag!"

Bevor wir zur Arbeit zurückkehren, lassen Sie uns ein Danklied singen:

Kanon:"Lobet und preiset ihr Völker den Herrn ...!"

Ich wünsche Ihnen, unseren Kollegen im Bundestag und allen Menschen, die um Entscheidungen ringen, diese Zuversicht des Psalmisten Davids.

Amen.

(Erika Schuchardt)