Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Prof. Dr. Horst-Georg Pöhlmann, Lehrstuhl Ev. Theologie, Universität Osnabrück, 1984

In: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 28. Jgg.,Heft 1, 1984

… ein Buch…, das aufhorchen lässt … an dem keiner vorbeikommt, … ein Werk, das als Meilenstein in der pädagogischen Fachdiskussion und in der Erwachsenenbildung … anzusehen ist …

Rezension: Meilenstein in der pädagogischen Fachdiskussion

Erika Schuchardt - Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hannover -hat hier ein Buch, das aufhorchen lässt, zum Jahr der Behinderten geschrieben, an dem keiner vorbeikommt, der mit Behinderten zu tun hat, darüber hinaus ein Werk, das als Meilenstein in der pädagogischen Fachdiskussion und in der Erwachsenenbildung mit der Zielgruppe Behinderter anzusehen ist. Ihr bildungsethisches Konzept, das auch auf andere Zielgruppen der Erwachsenenbildung übertragen werden kann, basiert auf Erfahrungsberichten eigener Praxis. Sie wendet sich vor allem gegen die vom jovial herablassenden Mitleid, nicht vom solidarischen Mitleiden diktierte einseitige These: "Der Behinderte braucht die Gesellschaft, um nicht desintegriert isoliert zu leben". Sie stellt ihr - aus christlicher Verantwortung - die Gegenthese gegenüber: "Der Behinderte braucht die Gesellschaft und (!) die Gesellschaft braucht den Behinderten." Auch der Nichtbehinderte braucht den Behinderten — nicht nur umgekehrt, denn "der Behinderte lebt vor, was es heißt, ganz allein aus sich selbst zu leben ohne jene für den Nichtbehinderten scheinbar unverzichtbaren Attribute der Leistungsgesellschaft wie Rolle, Position, Status", Sozialprestige. "Der Behinderte als Korrektiv problematisiert in seiner Existenz die Kriterien der Leistung des Nichtbehinderten." Die Verfasserin zeigt überzeugend, wie im 'Lernprozeß Krisenverarbeitung' in acht Spiralphasen Behinderte und Nichtbehinderte voneinander lernen — ob in der formellen oder in der informellen Erwachsenenbildung, dem persönlichen Umgang. Es handelt sich um die "Spiralphasen": l. "Ungewißheit" ("Was ist eigentlich los?"); 2. "Gewißheit" ("Ja, aber das kann doch nicht sein?"); 3. "Aggression" ("Warum gerade ich? "); 4. "Verhandlung" ("Wenn.., dann muß aber ...?"); 5. "Depression" ("Wozu… alles ist sinnlos ...?"); 6. "Annahme" ("Ich erkenne jetzt erst ... "); 7. "Aktivität" ("Ich tue das …"); 8. "Solidarität" ("Wir handeln"). Die Verfasserin zieht aus ihren Erfahrungen mit Behinderten das Resümee: "Trotz aller Problemlösungen stoßen wir an Grenzen. Wir können Krisen/Leiden nicht abschaffen, wir können aber die Bedingungen, unter denen Menschen von Krisen/Leiden getroffen werden, verändern, und wir können uns selber ändern, darin liegt die Überschreitung der Grenzen — "Der Lernprozeß Krisenverarbeitung befähigt uns dabei zum Mit-leiden, Mit-gehen, Mit-erleben und Mit-gestalten; das aber ist Glück."

Besonders betroffen machen den Leser die Biographien Behinderter, die in dem Buch geschildert werden — eine "Herausforderung zum Umdenken". Es geht der Verfasserin nicht um die Frage, ob man Behinderten helfen soll. Das wird heute niemand bestreiten; es geht nur darum, wie man ihnen helfen soll. Wie man sie wirklich sachgerecht auf ihrem Weg begleitet, so daß sie ihre Krise verarbeiten und nicht resignieren. Dabei liegt die Hauptnot, wie das Buch aufweist, weniger in der Behinderung des Behinderten, sondern in der hieraus sich ergebenden gesellschaftlichen Deklassierung. "Probleme Behinderter erweisen sich ... primär als psycho-soziale Probleme in den Interaktionen des Behinderten, im Vollzug seines unfreiwillig zugewiesenen und damit erworbenen Behinderten-Daseins mit eingeschränkter sozialer Interaktion am Rande der Gesellschaft; sie erweisen sich erst sekundär als physisch-individuelle Probleme des Behindert-Seins." "Integration Behinderter" kann folglich "durch intensivere Interaktionen angebahnt werden. Interaktion kann den Abbau von Informations- und Interaktionsstörungen bewirken und Interaktionsfähigkeit zwischen Behinderten und Nichtbehinderten aufbauen. Interaktion kann lernungewohnte Teilnehmer ansprechen und neue Bildungserwartungen wecken."

Der Christ, der weiß, daß in jedem Notleidenden Christus selbst begegnet (Matth. 25, 40), wird dem Behinderten ganz anders begegnen als es in unserer Gesellschaft üblich ist. Er begegnet ihm unten, nicht von oben herab - wie Gott selber uns unten, nicht von oben herab begegnet ist, es nicht besser haben wollte, Mensch wie wir wurde und in Krippe und Kreuz unsere Not zu seiner Not gemacht hat. Das im Grunde beleidigende Mitleid und das vom Status des Vollwertigen einem Minderwertigen gespendete Almosen ist eine Gotteslästerung, wenn man bedenkt, daß uns nach Matth. 25,40 Gott selber im Behinderten gegenübertritt.

Die Verfasserin hat das nicht aus theologischer, aber aus pädagogischer Sicht (durch ihre Pädagogik von unten) klargemacht. Sie schreibt: "Wir können" als Nichtbehinderte "die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen von Krisen bzw. Leiden getroffen werden, verändern. Wir können uns selber ändern und in Krisen bzw. im Leiden lernen, statt bitter zu werden. Wir können die Grenze von Tod, Verdummung und Desensibilisierung überschreiten, indem wir den Schmerz der Betroffenen mit ihnen teilen, sie nicht allein lassen und ihren Schrei lauter machen."