Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Prof. Dr. Christoph Bäumler, Lehrstuhl Praktische Theologie, Universität München

In: Zeitschrift der Deutschen Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (DEAE), Heft 2, 1981

… Das Buch von Erika Schuchardt halte ich… für die beste Veröffentlichung zur Integration …, die ich bisher gelesen habe. Sie bietet dem Praktiker Information und Anregungen als auch dem theoretisch interessierten Leser weiterführende Überlegungen…

Rezension: Die beste Veröffentlichung zur Integration

Die m.W. zuerst von Carl Friedrich von Weizsäcker aufgestellt These: „Der Behinderte braucht die Gesellschaft und die Gesellschaft braucht den Behinderten“ ist die Kernthese dieser wichtigen Arbeit. Zwar sind noch immer Zweifel daran erlaubt, ob es sich bereits von selbst versteht, dass der Behinderte die Gesellschaft braucht (S. 17). Sicher aber beinhaltet der zweite Satz eine weithin noch unverstandene Forderung: „Die Gesellschaft braucht den Behinderten. Der auf Leistung, Standard, Fortschritt programmierte Nichtbehinderte, der sich selbst im blinden Fortschrittsglauben der gesellschaftlichen wie weltgesellschaftlichen Aufgabe der Umstrukturierung entzieht – sich also gleichermaßen desintegriert – braucht die Herausforderung des Behinderten, der demonstriert, was es heißt, ganz aus sich selbst zu leben, der die Maßstäbe inhumaner Lebensstandards auf Lebensqualität befragt.“ (S. 17). Soziale Integration Behinderter heißt der Vf. zufolge nicht, die Behinderten der übrigen Gesellschaft zu „assimilieren“, sondern bedeutet die gegenseitige Integration von Behinderten und Nichtbehinderten auf dem Wege zu einer „integren“ Gesellschaft. Das ist ein hoher Anspruch, der im Grunde nur dann eingelöst werden kann, wenn sich die Konkurrenzgesellschaft in eine Kommunikationsgesellschaft transformiert.

Nicht nur der „eilige Leser“ (S. 3), sondern jeder Leser, der bisher von der Problematik Behinderter in unserer Gesellschaft noch nicht persönlich betroffen war, tut gut daran, mit der Lektüre des zweiten Teils „Analyse von Lebenswelten und Deutungsmustern in Biographien Behinderter und ihrer Bezugspersonen“ (S. 68-317) zu beginnen. Das Material von 60 Biographien Behinderter und ihrer Bezugspersonen (Bibliographie S. 467-473; schematische Darstellung S. 76f) wird nach der Methode der biographischen Einzelfallstudie aufbereitet.

Als Instrumentarium der Darstellung dient der Vf. ein Krisenverarbeitungsmodell, das eine Weiterentwicklung aus der Literatur bekannten Theorien von den Phasen des Sterbens und der Trauer durch die Vf. darstellt. Sie nimmt 8 „Spiralphasen“ an, in denen die Krisenverarbeitung als Lernprozeß erfolgt: Ungewißheit, Gewißheit, Aggression, Verhandlung, Depression, Annahme, Aktivität, Solidarität ( vgl. Graphik VIII S. 113; für die Lektüre ist es hilfreich, dass diese Graphik auf der vierten Umschlagseite beider Bände noch einmal abgedruckt ist). Von den bisherigen Phasentheorien der Krisenverarbeitung unterscheidet sich dieses Modell einmal durch die Weiterführung über die Phase der Annahme hinaus zu den Phasen der Aktivität und Solidarität und dann durch die besondere Hervorhebung der Phase der Aggression. In ihr wird der das Bejahungsproblem wie ein Schatten begleitende und notwendigerweise verdrängte Verneinungswunsch thematisiert und so bearbeitbar gemacht.

Die Unterscheidung eines kognitiv-fremdgesteuerten Eingangsstadiums, eines emotional ungesteuerten Durchgangsstadiums und eines aktional selbstgesteuerten Zielstadiums des Krisenverarbeitungsprozesses ist insofern problematisch, als kognitive, emotionale und pragmatische Dimensionen dieses Prozesses auch nach der Auffassung der Vf. in allen Phasen miteinander verbunden sind.

Die sehr dicht formulierten theoretischen Überlegungen (S. 4-67) gehen aus von der faktischen Separation Behinderter in der Bildungspolitik und schlagen symbolischen Interaktionismus als Erklärungsansatz für Integrationsprozesse vor. Das ist ebenso plausibel wie die Weiterführung dieses Ansatzes in eine handlungstheoretische Didaktik.

Zur Einlösung des eigenen Ansatzes der Vf. genügt allerdings das Paradigma des symbolischen Interaktionismus nach meiner Auffassung noch nicht. Dazu bedürfte es einer Kritischen Theorie der Gesellschaft, weil erst durch sie die Verankerung der Kommunikationsstörungen in der Verfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit der kritischen Analyse voll zugänglich gemacht würden.

Im dritten Teil zieht die Vf. pädagogische Konsequenzen. Besonders instruktiv ist die reflektierte Darstellung der eigenen Praxis im Rahmen der VHS Hannover (S. 353-444).

Das Buch von Erika Schuchardt halte ich trotz der gemachten Einwände für die beste Veröffentlichung zur Integration Behinderter, die ich bisher gelesen habe. Sie bietet sowohl den Praktikern Informationen und Anregungen als auch den theoretisch interessierten Lesern weiterführende Überlegungen.