Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Prof. Dr. Franz Pöggeler, Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik, Universität Aachen

In: Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 27. Jgg, Heft 3, 1981 und Stellungnahme


… Frau Prof. Dr. Schuchardt hat sich wie wohl kaum ein anderer Fachvertreter der Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland mit Fragen beschäftigt, die zu einer Synthese von Erwachsenenpädagogik und Sonderpädagogik führen ...
Sie hat neue Wege der Weiterbildung … aufgewiesen …, die Grundlegung einer neu zu schaffenden Integrations-Pädagogik/-Andragogik (Anm.: sog. Krisen-Management) entwickelt und dadurch einen originellen Beitrag zur andragogischen Forschung geleistet...

Rezension: Synthese von Erwachsenenpädagogik und Sonderpädagogik

In ihrem bisherigen Studiengang, sowie in ihrer Berufstätigkeit hat sich Frau Prof. Dr. Schuchardt wie wohl kaum ein anderer Fachvertreter der Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland mit Fragen beschäftigt, die zu einer Synthese von Erwachsenenpädagogik und Sonderpädagogik führen. Mit Recht hat Frau Schuchardt erkannt, daß Praxis und Theorie bei Erwachsenenbildung bisher behinderte Personen fast überhaupt nicht als Zielgruppe der Weiterbildung in Sicht genommen haben. Dieser Personenkreis hat aber ebenso ein Recht auf Weiterbildung, wie 'normale' Menschen. In ihren Veröffentlichungen hat Frau Schuchardt die Problematik der Weiterbildung behinderter Menschen in einer Gründlichkeit dargestellt, wie es vorher noch nicht getan worden ist; zugleich hat Frau Schuchardt (unter anderem am Beispiel von Modellen, die sie selbst inspiriert und durchgeführt hat) neue Wege zur Weiterbildung behinderter Menschen aufgewiesen.
In ihren Forschungsbemühungen hat Frau Schuchardt wichtige Grundlagen einer neu zu schaffenden Integrations-Pädagogik/-Andragogik entwickelt und dadurch einen originellen Beitrag zur andragogischen Forschung geleistet.

Durch Ihren eigenen Ausbildungs- und Berufsweg motiviert, auf dem bisher Schule, Weiterbildung und Sonderschule wichtige Stationen der Erfahrung waren, wird von der Verfasserin mit Erfolg versucht, die Problematik der Weiterbildung und der Sonderpädagogik aufeinander systematisch zu beziehen. Dies Ist - soweit ich sehe - der erste umfassende Versuch dieser Art. Das bedeutet, daß die Verfasserin nur wenig auf für die Fragestellung spezifische Vorarbeiten zurückgreifen konnte. Sie mußte sich In ein Neuland der Forschung wagen, das weniger in den dargestellten Praxismodellen als in der wissenschaftstheoretischen Annäherung beider Gebiete Risiken hohen Grades enthält.

Gegen diese hat sich die Verfasserin von vornherein abzusichern gewußt. Der 1. Hauptteil der Untersuchung bietet - vorwiegend in der Form von Referat und Bericht - zunächst eine Analyse der bildungspolitischen Ausgangssituation, für die charakteristisch ist, daß die Erwachsenenbildung/Weiterbildung bisher den immerhin doch sehr groß gewordenen Personenkreis der Behinderten weitgehend vernachlässigt hat. Der Quartärbereich unseres Bildungssystems, so wird von der Verfasserin gezeigt, hat sich bisher primär aufstiegsorientierten und besonders lernbegünstigten Gruppen zugewandt; eine "Sonderandragogik" als Wissenschaft von der Weiterbildung behinderter Erwachsener existiert nur in schwachen Ansätzen. Diese aufzunehmen und systematisch auszubauen, ist eine der Aufgaben, die sich die Verfasserin mit Elan gestellt und die sie auch in erfreulichem Ausmaß erfüllt hat.

Es braucht den Rahmen einer wissenschaftlichen Erstlingsarbeit keineswegs zu sprengen, wenn man von Anfang an mit einer bildungspolitisch und pädagogisch entschiedenen Forderung operiert: nämlich der nach Integration Behinderter in Bildungssystem und Gesellschaft. Obgleich vom Deutschen Bildungsrat propagiert, ist diese Forderung bisher von der zünftigen Sonderpädagogik fast einmütig abgelehnt worden. Die Verfasserin nimmt es also in Kauf, auf die Seite der Minderheit im Fach zu treten.

Zur Absicherung Ihres Systematlsierungsversuchs bietet sie einen recht komplizierten wissenschaftstheoretischen Apparat an. Seite für Seite wird ersichtlich, daß sie in der einschlägigen Literatur gut beheimatet ist und die Finessen der Methodologie im Griff hat. - Die Lernsituation Erwachsener bzw. Behinderter erklärt sie mit Hilfe heute modischer Theorieentwürfe (symbolischer Interaktionismus u.a.). Immerhin ist die Anwendung dieser Methoden im Bereich des gestellten Themas recht ergiebig, obgleich zu bemerken ist, daß andere Methoden und Theorieansätze ausgespart werden. Aber das ist das gute Recht der Verfasserin. Die theoretische Fundierung des hier neu entwickelten "Interaktionsmodells Behindertenintegration" ist noch nicht völlig ausgereift und bedarf in Zukunft der Weiterarbeit. Aber eben diese ist ein wichtiger Impuls, der sicherlich von dieser entstandenen Untersuchung ausgehen und die Forschung vorantreiben läßt.

Vielleicht hätte die Frage, ob die theoretische Begründung des Interaktionsmodells nicht auch mittels anderer Methoden und Theorien möglich gewesen wäre, ausführlicher diskutiert werden können, um den Eindruck einer gewissermaßen "blinden" Methodenwahl von vornherein zu entkräften.

Der kreative Extrakt der Untersuchung liegt zweifellos im 2. und 3. Hauptteil. Im 2. analysiert die Verfasserin "Lebenswelten und Deutungsmuster in Biographien Behinderter und ihrer Begleiter". Soziale Integration Behinderter - heute eine dringende Aufgabe der Gesellschafts- und Bildungspolitik - wird an einer Reihe von überzeugenden Literaturbeispielen (verteilt auf einen längeren Zeitraum) sehr plastisch dargestellt. Als methodologisches Raster verwendet Frau Schuchardt ein Denkmodell, das sie "Lernprozeß Krisenverarbeitung" nennt und das die Integration nicht rein funktionalistisch und assimilatorisch begreift, sondern im Sinne eines Mit- und Umdenkens und -handeins aller, die an der Integration Behinderter beteiligt sind.

Der Verfasserin ist sicherlich bewusst, daß das analytische Material auch aus anderen Quellen als aus gedruckten und in Buchform erschienenen Biographien hätte entnommen werden können, so z. B. durch Befragung Behinderter und deren Bezugspersonen. Aber durch diesen Hinweis wird der Ertrag des angewandten Verfahrens nicht gemindert. Durch die Ergebnisse des 2. Hauptteils wird nicht nur die Theorie der Sonderpädagogik bereichert, sondern die Behindertenforschung insgesamt, weil die Biographie-Analysen typische Reaktionen auf Entstehen und Auswirkungen von Behinderungen deutlich machen.

Der 3. Hauptteil ist ein Beleg dafür, daß sich die Verfasserin gleichermaßen in Sonder- und Erwachsenenpädagogik auskennt und beide Gebiete ineinander zu integrieren versteht. Diese Integration Ist vielleicht die wichtigste wissenschaftliche Leistung der Untersuchung. Statt einfach nur eine an der Praxis noch nicht erprobte neue Theorie zu skizzieren, geht sie den induktiven Weg: Sie beschreibt und evaluiert eine Reihe von ihr bekannten Formen der Bildungsarbeit von Behinderten bzw. für Behinderte. Es mag ein wenig kühn sein. daß die genannten Formen (aus Hannover, Nürnberg, Frankfurt, Ludwigshafen und Bethel) unbesehen als "Modelle" eingeschätzt werden: Dieser Anspruch wird übrigens von den Initiatoren der lokalen Initiative großenteils nicht erhoben. Der Begriff "Modell" impliziert Vorbildlichkeit und Exemplarität; ob diese wirklich gegeben sind, kann sich erst nach langem Erproben erweisen. Auf jeden Fall besitzen die beschriebenen Formen viel Überzeugungskraft. Die Verfasserin weiß, daß andere Initiativen und Formen noch hinzukommen sollten, vor allem solche, bei denen "normale" Erwachsene lernen, mit Behinderten zu kooperieren.

Die Untersuchung bekundet nicht nur die immense Belesenheit der Verfasserin. sondern auch den souveränen Umgang mit dem Stoff und die Exaktheit In der Verwendung von wissenschaftlichen Verfahrensweisen. Insofern liegt das Ergebnis weit über dem Niveau typischer Anfängerarbeiten.

Ein Seiteneffekt der Untersuchung sollte nicht unerwähnt bleiben: Die Verfasserin hat am Beispiel der Behinderten-Weiterbildung einen beachtlichen Beitrag zur Problematik der Zielgruppenarbeit geboren, die ja auch ein noch wenig erforschtes Gebiet ist.

Viel Geschick entwickelt sie bei der Ausarbeitung der zahlreichen Graphiken, die komplizierte theoretische Zusammenhänge meist sehr angenehm verdeutlichen. Es ist zu wünschen, daß das umfangreiche Werk von Erika Schuchardt schon in naher Zukunft zur wichtigen Orientierungshilfe für alle Veranstaltungen mit Behinderten in der Erwachsenenbildung wird.