Rezensionen - Krisen-Management und Integration

uni wuerzb

Prof. Dr. Andreas Möckel, Lehrstuhl Sonderpädagogik, Universität Würzburg

In: Eröffnungsrede Kongress Würzburg, 1981


… Der besondere Beitrag von Frau Schuchardt gegenüber der Lehre von Elisabeth Kübler-Ross und Paul Sporken lässt sich an 3 Punkten darlegen:
... nach der Bejahung ,Annahme’ (folgen) noch die Phasen der ,Aktivität’ und ,Solidarität’…
Ein 2. Punkt: ... Aggression (hat) eine kathartische Funktion ...
Der 3. besondere Beitrag ... ist die Einordnung des Modells der Krisenverarbeitung in ein schlüssiges Handlungskonzept. … Absage an eine eindimensionale Behindertenpädadagogik, die danach fragt, was ein Kind hat, statt zu fragen, was Kinder und Erwachsene ... tun. …
Frau Schuchardt beschreibt ihre eigenen Interventionen … gibt gute Beispiele gelungener Veranstaltungen, etwa ein Vorhaben, bei dem Tausende von Messe-Besuchern mit den Problemen behinderter Menschen bekannt gemacht und behinderte Jugendliche und Erwachsene als ,Animateure’ zu aktiven Messe-Mitarbeitern werden.
Das zweiteilige Buch wird seinen festen Platz in der Ausbildung ... finden …

Rezension: Noch über Kübler-Ross und Sporken hinaus

Frau Schuchardt ist Sonderschullehrerin und Diplompädagogin. Sie leitet die Abteilung Pädagogik, Psychologie, Philosophie an der Volkshochschule Hannover. Die beiden Bände spiegeln die sonderpädagogischen Teile der Volkshochschularbeit. Dieses Arbeitsfeld ist jung, und es ist Frau Schuchardt zu danken, dass sie ihm eine gründliche, inhaltlich und methodisch beachtenswerte Untersuchung gewidmet hat.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Analyse von 60 Biographien oder Autobiographien. Sie werden mit dem Schema eines typischen Krisenverlaufs analysiert, das Frau Schuchardt von Elisabeth Kübler-Ross und Paul Sporken übernommen, weitergeführt und neu gewichtet hat. Biographien und Schema bezieht Frau Schuchardt in einem Teil ihrer Arbeit außerdem auf akute Krisen, in denen sich Eltern behinderter Kinder befinden. Es handelt sich hierbei um ein Verfahren, das für die Weiterbildung erwachsener Menschen besonders geeignet erscheint.

Frau Schuchardt verwirklicht eine alte Forderung. Schon 1920 schrieb Eugen Rosenstock-Huessy in einer Denkschrift zur Akademie der Arbeit: “Die biographische Abteilung hat ebenfalls Mittel an der Hand, nicht im Geschwätz zu versanden, sondern Lebenserfahrung und Lebensgesetz zu konfrontieren.“ Sie kann das an den Naturwissenschaften lernen. Die Chemie zum Beispiel stellt typische Kurven für Reaktionsverläufe auf und vergleicht alsdann den einzelnen empirischen Reaktionsverlauf mit diesen Kurven. In diesem Vergleich erprobt sie beides: das vorweggenommene Gesetz und die einzelne Reaktion. Gesetz und Erfahrung werden beide unausgesetzt aneinander berichtigt. Ähnliches ist aus einer Gegenüberstellung von empirischen Lebensläufen mit Lebenskurven eines Schemas zu gewinnen“ (Rosenstock-Huessy in H. Reidel-Mertz (Hrsg.) 1968, S. 87).

Frau Schuchardt entwickelt ein Modell von acht Spiralphasen: Eltern behinderter Kinder, aber auch behinderte Kinder selbst müssen acht Stufen durchschreiten, bis die Behinderung mehr als eine niederdrückende Aufgabe, nämlich ein produktiver Beweggrund wird und die Eltern frei werden lässt, mit anderen Eltern und mit Menschen guten Willens, gemeinsame Aufgaben zu bewältigen. Diese Spiralphasen sind:

1. Ungewißheit ("Was ist eigentlich los?“), 2. Gewißheit ("Ja, aber das kann doch nicht sein?“), 3. Aggression ("Warum gerade ich…?“), 4. Verhandlung ("Wenn …, dann muß aber…?“), 5. Depression ("Wozu ... ,alles ist sinnlos…?“), 6. Annahme ("Ich erkenne jetzt erst …?“), 7. Aktivität ("Ich tue das …!“), 8. Solidarität ("Wir handeln …!“).

Frau Schuchardt belegt diese Spiralphasen mit erschütternden Zitaten aus Biographien und aus Tonbandprotokollen von Gruppengesprächen an der Volkshochschule. Die Phasen der Krisenverarbeitung nennt Frau Schuchardt "Spiralphasen“: "Während Phasen durch Begrenzung abgeschlossen sind, unterstreicht der Begriff Spiralphase einerseits die Unabgeschlossenheit, andererseits bringt er plastisch das Moment der Überlagerung zum Ausdruck. Die Spiralphase lebt aus den sich wiederholenden Spiralringen des Aufstieges wie des Abstiegs“ (S. 95).

Der besondere Beitrag von Frau Schuchardt gegenüber der Lehre von Elisabeth Kübler-Ross und Paul Sporken lässt sich an drei Punkten darlegen: Zunächst fällt auf, dass in ihrem Schema nach der Bejahung 'Annahme' noch die Phasen der 'Aktivität’ und 'Solidarität’ folgen. Diese beiden Phasen eröffnen die Aussicht auf gemeinsames Handeln, das auf die Wirklichkeit bezogen ist. Frau Schuchardt kann an den Biographien zeigen, wie die Einmündung der Krisenverarbeitung in gemeinsames solidarisches Handeln glücken und wie es verfehlt werden kann. Geglückte Krisenverarbeitung setzt Kräfte frei und kann sich fruchtbar auswirken. Zusammenschlüsse von Eltern, Weiterbildung, genossenschaftliche Selbsthilfe, Mobilisierung anderer Eltern, der Öffentlichkeit, des Gesetzgebers, davon zeugen die Biographien.

Ein zweiter Punkt, der hervorgehoben zu werden verdient, ist die Bestimmung und Klärung der Funktion, welche die Phase der Aggression im Verlauf der Krisenbewältigung hat. Frau Schuchardt arbeitet heraus, dass die Aggression eine kathartische Funktion hat. Fehlt die Aggression, dann tendieren behinderte Menschen und ihre Eltern zur Nichtannahme, zur Depression oder zur Isolation statt zur sozialen Integration. Dieses Ergebnis entspricht den Berichten von Robert Zaslow und Niklaas Tinbergen aus der Autismustherapie. Sie entspricht ferner den Befunden aus der Entwicklungspsychologie seit Hildegard Hetzer. Die Aggression ist als Durchgangsstadium zur sozialen Integration zu sehen und hat nicht nur eine positive Funktion, sondern ist unentbehrlich.

Der dritte besondere Beitrag von Frau Schuchardt ist die Einordnung des Modells der Krisenverarbeitung in ein schlüssiges Handlungskonzept und der Erweis seiner praktischen Bedeutung in Arbeitsberichten. Das geschieht im ersten und dritten Teil. Es ist schwer, gerade diesen Beitrag in einer kurzen Besprechung in seiner ganzen Komplexität zu würdigen. Frau Schuchardt hat sich nicht nur an die Biographien eingefühlt und im Rahmen ihres Themas mit sicherem Blick die wichtigsten Stellen hervorgehoben, sie zeigt vielmehr auch genau so viel Einfühlungsvermögen in den Gesprächen mit Eltern behinderter Kinder, wobei sie die Orientierung für die eigenen Interventionen aus dem Konzept des symbolischen Interaktionismus entwickelt. Das Handeln in der Situation steht im Mittelpunkt der Überlegungen. Das bedeutet eine Absage an eine eindimensionale Behindertenpädagogik, die danach fragt, was sein Kind hat, statt zu fragen, was Kinder und Erwachsene – Eltern wie Lehrende - tun. Weitere Kennzeichen dieses auf dem Situationsbegriff beruhenden didaktischen Konzepts ist die Zurücknahme des Lehrenden, der mehr Berater ist und den Dozenten nicht herauskehrt, ferner die aktive Rolle der Eltern im Lernvorgang. Den Teilnehmern an den Hochschulveranstaltungen wird Wandel zugemutet und zugetraut. Die Zumutung liegt weniger in der Forderung von Aktivität nach außen, sondern vielmehr in der Hinführung der Teilnehmer zu ihren eigenen Problemen, Gefühlen, Ängsten und Fähigkeiten. Der Lehrende steht nicht über der Lerngruppe, sondern ist offen für Ereignisse, die nicht vorhergesehen werden können. Er geht mit und begleitet den Gruppenprozeß. Frau Schuchardt geht ausführlich darauf ein, dass der Lernberater eine "metakommunikativ-therapeutische Kompetenz“ braucht. Die fünf Axiome zur Kommunikation Watzlawicks werden ausführlich dargelegt und mit den Interferenzhypothesen von Mader vermittelt.

Frau Schuchardt beschreibt ihre eigenen Interventionen mit Hilfe der hierbei gefundenen Begriffe. Sie gibt gute Beispiel gelungener Veranstaltungen, etwa ein Vorhaben, bei dem Tausende von Messebesuchern mit den Problemen behinderter Menschen bekanntgemacht und behinderte Jugendliche und Erwachsene als 'Animateure’ zu aktiven Messe-Mitarbeitern werden.

Das zweiteilige Buch wird seinen Platz in der Ausbildung der Sonderschullehrer finden. Es kann Lehrern und Volkshochschuldozenten empfohlen werden; denn es zeigt den Weg zur Integration behinderter Menschen und ihrer Angehöriger und gibt damit ein Beispiel, wie Gruppen aktuelle Fragen realistisch angehen können.